Der neunte Buddha - Thriller
sprechen«, sagte Christopher.
»Wer hat Ihnen das geraten? Die Polizei?«
»Ja. Die Polizei.«
»Hat die sie nach Indien geflogen? Verzeihen Sie mir, wenn ich etwas aufdringlich erscheine. Aber es verwundert mich schon, dass ein Mann wie Sie so viel Einfluss haben soll, um von einer Behörde nach Indien geflogen zu werden. Nur um nach seinem Kind zu suchen, wie kostbar es für ihn auch sein mag. In der Regel sind die Behörden nicht so zuvorkommend.«
Jetzt schien es für Christopher Zeit zu gehen.
»Dr. Carpenter, ich danke Ihnen und Ihrer Gattin herzlich für den schönen Abend. Ich habe das Mahl und das Gespräch mit Ihnen sehr genossen.« Er wandte sich CarpentersFrau zu. »Bitte nehmen auch Sie meinen Dank entgegen, Mrs. Carpenter. Sie waren eine überaus aufmerksame Gastgeberin. Aber nun muss ich leider aufbrechen. Ich bin erschöpft von der Reise, und ich fürchte, Sie zu langweilen, wenn ich noch länger bleibe. Sie haben so schwere Pflichten zu erfüllen.«
»Natürlich, natürlich. Wie gedankenlos von uns, Sie so lange aufzuhalten.« Moira Carpenter erhob sich. Ihr Gatte folgte ihrem Beispiel.
»Wenn es Sie nicht zu sehr ermüdet, Mr. Wylam«, sagte der Missionar nun, »würde ich Ihnen gern noch den Teil unseres Hauses zeigen, wo die Jungen leben. Die Kinder schlafen jetzt, aber es würde mich sehr freuen, wenn Sie sie in Augenschein nähmen, bevor Sie gehen.«
Der Flügel der Jungen befand sich ganz in der Nähe. Eine mit grünem Tuch beschlagene Tür führte in einen kurzen Gang, hinter dem ein langer Schlafsaal im Mondlicht lag. In exakt ausgerichteten Reihen wie die Patienten in einem Krankensaal schliefen die Kinder, und die Stille des Raumes wurde nur von ihren Atemzügen unterbrochen. Carpenter schritt mit einer blakenden Laterne durch die Reihen und führte Christopher die schlafenden Jungen vor, wie der Kustos in einem Wachsfigurenkabinett einem Besucher seine Stücke präsentiert. Auf schmalen Pritschen lagen die Kinder in dünne Decken gehüllt und hatten schwere Träume.
Christopher hätte gern gewusst, warum Carpenter ihn hierher geführt hatte, ja, was hinter der ganzen Abendeinladung steckte. Wollte er damit die am Nachmittag gezeigte Nervosität überspielen? Als er die schlafenden Jungen sah, stieg in ihm der Gedanke auf, ob man William vielleicht hier festgehalten hatte. War das der Grund für Carpenters bohrende Fragerei? Aber die Idee war ihm kaum gekommen, da tat er sie bereits als lächerlich ab.
Die Carpenters geleiteten ihn zur Tür und übertrafen sich dabei in Liebenswürdigkeiten. Ansonsten war es im Waisenhaus still. Christopher stellte sich die Mädchen im Schlaf vor, wie sie in ihren Träumen von dunklen Göttern und Göttinnen geängstigt wurden: von der schwarzen Kali, die auf den Leichen ihrer blutbefleckten Opfer tanzte, von Schiwa, der mit mörderischen Händen das Universum zerstörte. Oder träumten sie von Kannibalen in den Bergen, die englische Kinder aßen? Und wenn, was bedeutete das für sie?
Erst nach zehn kam er wieder in seinem Rasthaus an. Der Gemeinschaftsraum lag im Halbdunkel. Überall sah man kleine Hügel. Es waren die schlafenden Reisenden, die um ein oder zwei Uhr morgens aufbrechen wollten. Es hieß, das Wetter im Norden bessere sich, was die Aussicht bot, die Pässe ins Chumbi-Tal könnten in ein, zwei Tagen wieder passierbar sein.
Er stieg die wacklige Treppe zum Obergeschoss hinauf und leuchtete sich den Weg mit der stinkenden Öllampe, die er für diesen Zweck unten hatte stehen lassen. Die dünnen Holzwände des Hauses boten keinerlei Schutz vor der Kälte. Der Regen hatte sie aufgeweicht und der Frost die Bretter springen lassen. In einem Raum im hinteren Teil des Korridors stöhnte ein Mann vor Schmerz, aber niemand reagierte darauf. Draußen streiften Hunde durch die Straßen, alte Tiere, klapprig und krank, die es nicht wagten, sich bei Tageslicht zu zeigen. Christopher konnte hören, wie sie einsam und verzweifelt in der Nacht heulten.
Er sah den Mann nicht, der ihm einen Schlag versetzte, als er die Tür öffnete. Er spürte auch nicht mehr, dass er bewusstlos auf den schmierigen Boden seines Zimmers sank. Einen Augenblick lang sah er helles Licht und Gesichter, die sich darin bewegten. Vielleicht war es auch nur ein einziges Gesicht, verschwommen und nicht zu fassen. Dann schwankteder Boden unter seinen Füßen, die Welt um ihn schimmerte rötlich und war verschwunden, während es ihn einsam und allein durch die Dunkelheit
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