Der neunte Buddha - Thriller
als politischem Scharfsinn beruhte. Dass jemand plötzlich und auf unerklärliche Weise zu Tode kam, dürfte ihr in der Tat nicht fremd sein, dachte Christopher bei sich.
»Ich bedaure«, fuhr sie fort, »dass sie im Moment unter keinen Umständen gestört werden dürfen. Vielleicht kann Mrs. Carpenter für heute Nachmittag eine Begegnung mit Ihnen arrangieren. Inzwischen haben Sie die Freundlichkeit und entfernen sich.«
»Und wer ist Ihr Gatte, Madam?«, fragte Christopher. Er hatte keine Lust, sich von einer Frau einschüchtern zu lassen, die mit ihrer Gouvernante in einem Rolls Royce zum Morgentee fuhr.
»Der Nawab von Hasanabad«, erklärte jetzt Moira Carpenter,als dürfe die Begum auf Grund einer unbekannten Regel der muslimischen Etikette den Namen ihres Mannes nicht selbst aussprechen. »Was die Begum sagt, trifft zu. Sie dürfen nicht gestört werden. Gehen Sie nach Hause, Mr. Wylam. Bringen Sie sich in Ordnung. Denken Sie über das nach, was Sie soeben geäußert haben. Und wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, Sie müssten meinen Mann sprechen, kommen Sie bitte am Nachmittag wieder, wie die Begum angeregt hat, und wir werden Sie empfangen. Soll ich einen Boten schicken, um Ihre grausige Entdeckung der Polizei zu melden?«
Sie war krampfhaft bemüht, einen Schleier der Normalität über die peinliche Szene zu werfen. Die Gouvernante atmete jetzt auch wieder etwas ruhiger. Sie hatte festgestellt, dass die Teeflecke sich auswaschen ließen.
»Man hat Cormac die Kehle von einem Ohr bis zum anderen durchgeschnitten!«, herrschte Christopher sie an. »Mit einem Skalpell. Soll ich es Ihnen zeigen? Vielleicht fahren wir alle miteinander mit diesen feinen Autos da draußen zu Cormacs Haus, und Sie überzeugen sich selbst? Wir können ja Tee und Sandwiches mitnehmen. Nur mit den Fliegen müssen Sie aufpassen. Dort gibt es jetzt eine Menge davon.« Er spürte, dass er gleich zu brüllen anfangen würde, doch das war jetzt ohne Bedeutung.
Die beiden Europäerinnen wurden bei Christophers Tirade merklich blasser, nur die Begum blieb unbewegt. Sie allein hatte schon Männer mit durchschnittener Kehle gesehen. Nur als der Fremde von Fliegen redete, glaubte sie, er sei nicht ganz richtig im Kopf.
»Gehen Sie auf der Stelle«, sagte sie, »oder ich muss die Leute meines Mannes rufen, dass sie Sie hinauswerfen. Die sind nicht zimperlich, und es sollte mich nicht wundern, wenn Sie sich dabei den Hals brechen.«
Christopher ließ einen lästerlichen Fluch hören und stürmte aus dem Raum. Er hatte genug Zeit verschwendet.
Von den Wohnräumen der Carpenters führte eine Doppeltür in das Waisenhaus. Christopher spürte die Kälte, als er hindurchging. Nur im Gebäudeteil der Carpenters heizte man stark. Am Abend zuvor hatte er einen flüchtigen Eindruck vom Plan des Hauses erhalten. Im Parterre, durch das man ihn kurz geführt hatte, lagen der Versammlungsraum, die Klassenzimmer, der Speisesaal und die Küche. Im ersten Stock waren rechts die Schlafsäle und Waschräume der Mädchen. Links war der Teil der Jungen, den er am Abend zuvor besucht hatte.
Dorthin lief er zuerst. Hinter der Haupttür kam ein langer, leerer Korridor. Zu beiden Seiten gingen Holztüren mit Glasfenstern in der oberen Hälfte ab. Als er durch das erste blickte, sah er einen Lehrer vor der Wandtafel und zwei Bankreihen. Durch die geschlossene Tür hörte er die Jungen im monotonen Singsang wiederholen: »Neun mal sieben ist dreiundsechzig, neun mal acht ist zweiundsiebzig, neun mal neun ist einundachtzig, neun mal …«
Er lief weiter, und die Stimmen wurden leiser. Der Gang führte in einen gefliesten Saal, in dem seine Schritte widerhallten. Außerhalb der Klassenräume, wo nur das pagageienhafte Nachplappern vorgefertigter Sätze auf eine Spur von Leben hindeutete, war das Gebäude von einer merkwürdigen, unangenehmen Stille erfüllt. Es war ein Schweigen, das aus Elend und Stumpfsinn erwuchs, wie Unkraut aus seinem Samen wächst – dicht, hoffnungslos und abstoßend. Er stellte plötzlich fest, dass er langsamer und auf Fußspitzen ging, als müsse er sich der Atmosphäre des Ortes anpassen. Links von ihm führte eine breite Treppe in dasoberste Geschoss. Er lief auf sie zu, weil es ihn ohne ersichtlichen Grund dorthin zog.
Die Treppe endete im nächsten engen Gang, in dem es nach billiger Seife und gestärkter Bettwäsche roch. Die Wände waren weiß und kahl. Schlaf war hier eine Pflicht wie jede andere, mit festen Zeiten und
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