Der neunte Buddha - Thriller
er sich eingestehen, dass Lhatens Behauptung, er habe so etwas früher schon getan, der Wahrheit entsprach.
Christopher versuchte zu schlafen, aber er verfiel nur in einen unruhigen Schlummer, aus dem er von Zeit zu Zeit hochfuhr. Lhaten an seiner Seite atmete tief und gleichmäßig. Der Boden war hart und die Luft bitterkalt. Sobald die Sonne kam, würde es wieder warm werden, aber das war in der Nacht ein schwacher Trost. Die Bilder vom Vortag standen Christopher noch zu klar vor Augen, als dass er hätte völlig abschalten können.
Der leicht verschleierte Himmel wechselte von Purpur zu Scharlachrot und schließlich zu gleißendem Gold, als die Sonne über den Bergen von Bhutan aufging. Bei ihren ersten Strahlen erwachte Lhaten. Er wollte an diesem Tag gut vorankommen und die ausgetretenen Pfade möglichst weit hinter sich lassen. Aus der Ferne ging der Pee-ling als nepalesischer Reisender durch, aber er wollte möglichst vermeiden, dass sie näher in Augenschein genommen wurden. Vor allem Christophers Körpergröße würde unnötige Aufmerksamkeit erregen. Und daran war nun einmal nichts zu ändern.
In Damtung teilte sich der Weg. Nach links führte ein Pfad zum Buddhistenkloster Pemayangtse, und der breitere Weg nach rechts senkte sich ins Tal der Tista hinab. Weiter ging es dort nach Gantok, der Hauptstadt von Sikkim.
»Wir müssen die Straße nach Gantok nehmen, Sahib. Wir haben keine andere Wahl. Wenn wir auf andere Menschen treffen, dann überlassen Sie das Reden mir. Ich werde behaupten, Sie seien stumm.«
Es folgte ein steiler Abstieg. Die Tista war von schweren Regenfällen stark angeschwollen. Sie war ein breiter Fluss, doch sie schoss mit einer Wucht dahin wie ein Bergstrom, der sich durch enge Schluchten zwängt. Eilig passierten sie die Dörfer Temi und Tarko, als seien sie Händler, die rechtzeitig zum Markttag in Gantok sein wollten. Die Hitze wurde unerträglich. Gegen Mittag wanderten sie mit freiem Oberkörper. DieKälte der Nacht kam ihnen jetzt wie ein Traum oder eine ferne Erinnerung vor.
Bald waren sie von düsterem, feuchtem Dschungel umringt, der ihnen dicht auf den Leib rückte. Er berührte sie beim Vorübergehen mit Fingern aus feuchten grünen Blättern und Ranken, die schleimigen Schlangen gleich von moosigen Ästen herabhingen. Neben Bambus und Palmen drängten Riesenfarne zum Licht. Jeder Stamm war von Lianen und anderen Schlingpflanzen umschlungen. Orchideen blühten in üppigen Büschen und sandten einen berauschenden Duft aus. Grell gemusterte Schlangen glitten durch das dichte, modrige Unterholz. Die schwere, feuchte Luft roch nach Fäulnis. Sie versuchten, so flach wie möglich zu atmen, als durchquerten sie einen Ort, wo Krankheiten und anderes Unheil ausgebrütet wurden.
In diesem Wald waren Leben und Tod untrennbar miteinander verwoben. Sterbendes bot Nahrung für neues Leben, das sich überall zeigte. Es umbrauste sie – heiß, grün und ruhelos. Alles schien von einem wilden Fieber erfasst – Insekten, Blumen, Vögel, Reptilien und andere Tiere.
Christopher sah einen ganzen Schwarm von Schmetterlingen, die in einem Sonnenstrahl dicht am Boden tanzten. Ihre Flügel schienen Feuer gefangen zu haben. Sie strahlten in Rot, Blau und Gelb wie bunte Glasfenster in einer dunklen Kathedrale. Aber als er näher hinschaute, sah er, dass sie auf dem verwesenden Kadaver eines kleinen Tieres saßen, von dem sie sich ernährten. Dann zeigte ihm Lhaten eine einzelne Blüte von großer Schönheit, die wie ein blutroter Edelstein von einem langen Ast herabhing. In der Dunkelheit darüber hatte eine Spinne ihr Netz ausgespannt, in dem Insekten, von den roten Blütenblättern angelockt, sich rettungslos verfingen.
Von Anfang an wurden sie von Blutegeln geplagt. Wiekurze, dünne Regenwürmer ließen sie sich von überall her auf sie herabfallen, fanden jede winzige Öffnung in ihren Kleidern, bis sie den von ihnen so ersehnten nackten Körper erreicht hatten. Dort saugten sie dann Blut, bis sie gesättigt waren. Es nützte nichts, sie herauszureißen. Ihr Maul blieb in der Haut stecken und erzeugte eine eiternde Wunde. Lhaten und Christopher mussten alle paar Kilometer innehalten und sich gegenseitig mit kleinen Salzsäckchen behandeln, die sie in Wasser tauchten. Die zwangen die Egel, loszulassen und abzufallen.
Meist schritten sie schweigend aus. Die Hitze und die drückende Luft machten Sprechen zu einem Luxus. Grellbunte Vögel, Frösche, Affen und all die anderen Bewohner
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