Der neunte Buddha - Thriller
Ich bin Thondrup Chophel. Ich bin von Dorje-la gekommen, um Sie zu suchen.«
Er spürte eine Hand auf seinem Arm und biss sich vor Angst fast die Zunge ab.
»Bitte, Rinpoche, fürchten Sie sich nicht. Machen Sie die Augen auf. Ich bin es. Thondrup Chophel. Ich bin gekommen, um Sie nach Hause zu holen.«
Endlich überwand der Junge seine Furcht und wagte einen Blick.
Das war nicht Thondrup Chophel. Es war niemand, den er kannte. Das war ein Dämon in Schwarz, der ihn mit schrecklich bemaltem Gesicht anstarrte. Er sprang auf und wollte weglaufen. Eine Hand packte ihn beim Arm und hielt ihn fest. In Panik blickte er auf den Dämon. Das Wesen hob eine Hand und nahm die Maske vom Gesicht. Es war eine Ledermaske, wie die Reisenden vor drei Tagen sie getragenhatten. Darunter kam das Gesicht von Thondrup Chophel zum Vorschein.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie erschreckt habe, Herr«, sagte der Mann. Dann hielt er inne. »Wo ist Geshe Tobchen?«
Der kleine Rinpoche erklärte es ihm.
»Dann wollen wir Gott Chenrezi danken, dass er mich zu Ihnen geführt hat. Schauen Sie, der Nebel löst sich auf. Wenn wir gegessen haben, müssen wir uns auf den Weg machen.«
Zunächst stärkten sie sich, wie üblich mit Tee und Tsampa . Thondrup Chophel war nie sehr gesprächig gewesen. Der Junge mochte ihn nicht. Er war der Geku des Klosters, dafür zuständig, auf die Disziplin der Mönche zu achten. Samdup erinnerte sich, wie er in seinem schweren Gewand mit den gepolsterten Schultern bei Zeremonien in der großen Tempelhalle von Dorje-la durch die Reihen der Mönche schritt, die die glattrasierten Köpfe gesenkt hielten. Er hatte Samdup nie persönlich gemaßregelt, das war Aufgabe von Geshe Tobchen gewesen, dem obersten Wächter und Lehrer des Jungen. Aber Thondrup Chophel hatte ihn oft böse angesehen und jede seiner Verfehlungen sofort Tobchen gemeldet.
»Sind Sie gekommen, um mich nach Gharoling zu bringen?«, fragte der Junge.
»Nach Gharoling? Warum sollten wir nach Gharoling gehen, Herr? Ich bringe Sie zurück nach Dorje-la Gompa.«
»Aber Geshe Tobchen wollte mit mir nach Gharoling gehen, wo ich bei Geshe Chyongla Rinpoche studieren sollte. Er sagte, ich würde nicht nach Dorje-la zurückkehren, unter keinen Umständen.«
Der Mönch schüttelte den Kopf.
»Bitte, streiten Sie nicht mit mir, Herr. Ich habe Anweisung, Sie zurückzubringen. Der Abt sorgt sich um Sie. Geshe Tobchen hatte keine Genehmigung, mit Ihnen fortzugehenoder Sie gar nach Gharoling zu bringen. Sie sind zu jung, um das zu verstehen. Sie müssen mit mir gehen. Sie haben keine andere Wahl.«
»Aber Geshe Tobchen hat mich gewarnt …«
»So? Wovor hat er Sie gewarnt?«
»Vor … Gefahr.«
»Wo? In Dorje-la?«
Der Junge nickte. Er war unglücklich, dass er dem Wunsch seines Lehrers nicht nachkommen konnte.
»Das haben Sie sicher falsch verstanden, Herr. Ihnen droht keine Gefahr in Dorje-la. Dort sind Sie sicher.«
»Und wenn ich selber nach Gharoling gehen will?«
Er sah, wie Zorn in dem Geku aufstieg. Er war ein mächtiger Mann, den man besser nicht reizte. Samdup war oft Zeuge gewesen, wie er andere Mönche bestraft hatte.
»Sie würden eher sterben, als Gharoling zu erreichen. Das ist nicht der Weg dorthin. Gharoling ist fern von hier. Ich bin gekommen, um Sie nach Dorje-la zurückzubringen. Darüber gibt es keine Diskussion. Sie haben keine andere Wahl.«
Der Junge schaute in den Nebel. Die Welt war ein schrecklicher Ort. Tiere und Menschen stürzten in dieser Einöde ab, ohne je zurückzukehren. Wenn er hier blieb, drohte auch ihm dieses Schicksal. Geshe Tobchen hätte gewusst, was jetzt zu tun war. Er hatte es immer gewusst. Aber Geshe Tobchen war im Nebel verschwunden. Er hatte tatsächlich keine Wahl. Er musste nach Dorje-la zurückkehren.
ZWEITER TEIL
Inkarnation
Dorje-La
»Ich blieb zurück, um den bösen Traum zu Ende zu träumen.«
Joseph Conrad, Herz der Finsternis
19
Sie verließen Kalimpong spät in der Nacht, als es stockdunkel war und kein Mondlicht sie verraten konnte. Nur die streunenden Hunde schlugen an, wenn sie ihnen begegneten. Auf einem Balkon schluchzte eine Frau im Dunkeln. In den Knox Homes hinter der Kirche waren die Nachtgebete vorüber. Ein kleines Mädchen, das nicht schlafen konnte, lauschte dem traurigen Ruf eines Käuzchens.
Christopher hatte den Rest des Tages in einem unbenutzten Anbau verbracht, während Lhaten Proviant erwarb – ein bisschen hier, ein bisschen da, um keinen Verdacht zu erregen. Vor
Weitere Kostenlose Bücher