Der neunte Buddha - Thriller
menschlichen Körper sehr rasch jedes bisschen Wärme entzog.
Christopher fand die große Segeltuchtasche wieder, die Lhaten getragen hatte. Seine eigene kleinere Tasche hatte er unter dem Schnee verloren. In der großen Tasche lag das Grabwerkzeug, das der Junge auf sein Drängen hin mitgenommen hatte. Es war klein, aber stabil. Mit ein bisschen Glück konnte es ihnen das Leben retten.
Der Wind nahm an Stärke zu, als Christopher sich zu den Resten der Lawine begab. Er musste kriechen, damit ihn der Sturm nicht umriss. Es war gerade so hell, dass er sich orientierenkonnte. Als er den Schneeberg erreicht hatte, schnitt er Schneeblöcke heraus, jeder etwa 75 Zentimeter lang und 30 Zentimeter breit. Sobald er auf diese Weise eine Fläche von etwa zwei Quadratmetern geräumt hatte, stapelte er die Blöcke zu einer Mauer auf. Er brauchte etwa eine Stunde, bis so etwas wie ein roher, rechteckiger Iglu fertig war, den er mit dickeren und längeren Blöcken abdeckte. Als er zu Lhaten zurückkam, schlotterte der Junge vor Kälte. Er hatte bereits viel Wärme verloren. Von Zeit zu Zeit stöhnte er und murmelte etwas vor sich hin. Als Christopher ihn ansprach, reagierte er nicht. Sein Puls war schwach, sein Atem langsam und flach. Er konnte unmöglich selbst zu dem Unterschlupf gehen, auch nicht, wenn Christopher ihn stützte. Der Wind hätte beide sofort umgeblasen.
So musste Christopher ihn dorthin schleifen. Es waren kaum zehn Meter, aber der Wind und Christophers Sorge, das gebrochene Bein nicht zu verschieben, ließen die Strecke zehnmal so lang erscheinen. Nach der Anstrengung des Bauens gaben ihm seine Lungen zu verstehen, dass sie ihm bald den Dienst aufkündigen würden. Mit geschlossenen Augen schleppte er seine Last weiter. Nicht jetzt, betete er, nicht jetzt.
Das Beten fiel ihm leicht. Die Worte kamen wie von selbst über seine Lippen. Das Kind in ihm betete für den Mann, der Gläubige für den Ungläubigen. Wie Lhaten mit seinen Mantren in einer anderen Sprache und in einem anderen Glauben, so betete er beim Heulen des Windes zur Heiligen Jungfrau. Er bat sie um Liebe, um Leben, um die Kraft, den Jungen noch ein Stückchen über den windumtosten Boden der Schlucht zu ziehen.
Heilige Maria, Muttergottes, bete für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Heilige Maria, Muttergottes, bete für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Heilige Maria, Muttergottes …
Der Wind riss ihm die Worte vom Mund. Er verschnaufte ein wenig und schleppte Lhaten weiter. Der Junge wog schwer, obwohl er unter normalen Umständen für Christopher leicht sein musste. Endlose Zeit schien vergangen zu sein, bis sie bei dem Iglu angelangt waren.
Christopher legte den Jungen ganz hinten in dem Unterschlupf auf eine Decke, die er der Tasche entnommen hatte. Dann verschloss er den Eingang mit weiteren Schneeblöcken, die er dafür bereitgelegt hatte. Er bearbeitete sie so lange, bis sie richtig passten. Als der letzte Block gesetzt war, verstummte das Heulen des Windes plötzlich. Christopher und sein Begleiter waren von Stille umgeben, als befänden sie sich im Auge des Sturms. Mit losem Schnee dichtete Christopher die Ritzen ab und rollte sich dann zu Füßen des Jungen zusammen. Wenige Minuten später schlief er schon wieder. Er träumte von Ernte und Überfluss im Herbst, von goldenen Garben und reifen Äpfeln an tief herabhängenden Ästen.
In der Nacht schlug das Wetter um. Es war der 12. Januar. Zwei Karawanen wurden vom Schneesturm auf dem Nathula eingeschlossen, und ein Hurrikan riss vom Tempel in Mindroling das Dach herunter. In dieser Nacht zeigte sich am Himmel über Tashi Lhumpo ein Meteor.
Es war die Nacht, da die Götter nicht mehr spielten, sondern über Orte schritten, die sie noch nie betreten hatten.
Gegen Morgen herrschte in dem Unterschlupf eine angenehme Temperatur. Lhaten war wieder bei Bewusstsein und sagte, er fühle sich ganz gut, wenn er von dem Schmerz in seinem Bein absehe. Dagegen konnte Christopher nichts tun. Er fand etwas getrockneten Yakdung, den eine Karawane im Sommer zurückgelassen hatte, und entfachte damit ein Feuerchen. In Tibet, wo es so wenig Bäume gibt, ist dies nahezu das einzige Brennmaterial.
Er musste das Feuer in dem Iglu anzünden und ließ den Rauch durch ein Loch entweichen. Draußen wüteten immer noch starke Winde. Einmal prasselte ein schwerer Hagelschlag durch die Schlucht. Am dunklen Himmel prallten dicke Wolken heftig aufeinander.
Christopher
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