Der neunte Buddha - Thriller
war das Heulen vorbei, und die letzten Schneekristalle sanken langsam herab. Im Tal wurde es still. Die Berge sahen zu, unbewegt, gefühllos und selbstgefällig in ihrer weißen, unbefleckten Entrücktheit. Sie hatten das schon so oft erlebt und würden es wieder erleben.
21
In der Stille konnte er sein Herz klopfen hören wie eine Begräbnistrommel. Es pochte langsam und melancholisch, aber er war am Leben. Er öffnete die Augen. Ringsum war alles schwarz. Für einen Moment geriet er in Panik, weil er glaubte, er sei erblindet. Dann begriff er, dass die Lawine ihn unter sich begraben hatte. Er spürte das Gewicht des Schnees, das ihn niederdrückte. Schwer, aber nicht zu schwer. Er war sicher, dass er sich daraus befreien konnte.
Nur das Ende der Lawine, wo der Schnee mehrere Dutzend Zentimeter dick war, hatte sie verschüttet. Christopher brauchte nicht lange, um sich freizuschaufeln. Wesentlich länger dauerte es, bis er Lhaten fand. Der Junge war vor ihm gelaufen, als die Lawine niederging, also suchte Christopher in dieser Richtung. Mit bloßen Händen scharrte er jede nur mögliche Erhebung im Schnee beiseite. Dabei blickte er immer wieder ängstlich nach oben, denn die Lawine konnte weiteren Schnee gelockert haben.
Schließlich fand er Lhaten unter einer fast meterdicken Schneeschicht ganz in seiner Nähe. Zuerst glaubte er, der Junge sei tot, so ruhig lag er da. Aber dann stellte er fest, dass Lhaten noch atmete. Er entdeckte Blut an seiner linkenSchläfe, und ein großer Stein lag in der Nähe. Christopher nahm an, der habe ihn bewusstlos geschlagen. Erst als er ihn ganz aus dem Schnee zog, fiel ihm das Bein auf.
Lhatens linkes Bein lag in merkwürdiger Stellung da. Unter dem Knie war seine Hose blutig, und als Christopher die Stelle vorsichtig betastete, spürte er etwas Hartes unter dem Stoff. Sein Schienbein war beim Fallen gebrochen, und der Knochen hatte sich durch die dünne Haut gebohrt.
Christopher richtete das Bein, während der Junge noch bewusstlos war, und riss sein eigenes Unterhemd in Streifen, um das Bein zu bandagieren. Dann schnitt er dickere Stücke aus seiner Chuba heraus, dem Schaffellmantel, den Lhaten in Kalimpong für ihn beschafft hatte, und legte sie zwischen die Beine des Jungen. Nachdem er die Wunde versorgt hatte, band er beide Beine fest zusammen.
Als das vollbracht war, sank er neben seinem Gefährten zu Boden und fiel in tiefen Schlaf. Sollte es noch eine weitere Lawine geben, dann würde das ihr Ende sein. Christopher konnte keinen Schritt mehr tun, und wenn es um sein Leben gegangen wäre.
Als er schließlich wieder erwachte, war es stockdunkel. Wind blies von irgendwoher, ein alter Wind, voller Traurigkeit und grundloser Wut. Er war allein, hungrig und bösartig. Er füllte die ganze Welt – Himmel, Berge, Pässe, Gletscher, alle Höhen und alle Pfade der Verdammten. Er fuhr durch die Schlucht, in der sie lagen, und wütete dort mit der Heftigkeit einer verlorenen Seele.
Da der Wind so laut heulte, hörte Christopher zuerst nicht Lhatens Stöhnen. Dann drang es an sein Ohr wie das Heulen eines verlassenen Hundes. Christopher rückte näher an ihn heran.
»Lhaten!«, rief er und versuchte, das Getöse zu überschreien. »Ich bin es, Christopher! Wie geht es dir?«
Da keine Antwort kam, beugte er sich ganz nah über ihn. Diesmal antwortete Lhaten.
»Mir ist kalt, Sahib. Und ein Bein tut mir weh. Jemand hat meine Beine zusammengebunden. Aber meine Finger sind zu steif. Ich kann die Fessel nicht lösen. Und ich habe schreckliche Schmerzen im linken Bein.«
Christopher erklärte ihm, was geschehen war, und der Junge beruhigte sich ein wenig. Dann zog er Christopher näher zu sich heran und sagte: »Wir müssen einen Unterschlupf finden, Sahib. Wenn wir hier liegen bleiben, werden wir sterben.«
Der Junge hatte recht. In diesem geschwächten Zustand würde die Kälte sie umbringen, wenn nicht in dieser Nacht, dann am nächsten Tag oder am übernächsten. Binnen Stunden würde Christopher zu matt sein, um sich noch zu bewegen, und dann war es mit beiden aus. Zum Glück hatte ihn die erzwungene Ruhe wieder etwas gekräftigt. Es war die längste Pause seit einigen Tagen. Sie hatte seinem Körper die Möglichkeit gegeben, sich zu akklimatisieren. Seine früheren Erlebnisse mit großer Höhe ließen diesen Prozess schneller ablaufen, und nach dieser Krise funktionierte er wieder fast normal. Jetzt war die Hauptgefahr nicht die Höhe, sondern der Wind, der dem
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