Der neunte Buddha - Thriller
dabei weit mehr als seinen Anteil am Gepäck. Zu beiden Seiten des engen Tals behinderten steile Felswände die Sicht. Es gab kein Ausweichen. Der einzige Weg führte steil nach oben.
Den ganzen Tag und auch den nächsten kämpften sie sich auf diese Weise vorwärts, bis sie eine flache Gegend erreichten, die fast frei von Schnee war. Das Wetter hielt, aber mit zunehmender Höhe wurde es immer kälter. Im offenen Gelände unmittelbar vor den Pässen waren sie den scharfen Winden schutzlos ausgesetzt. Sie stürzten sich auf sie wie Vampire, die ihnen den Atem raubten und das Blut gefrieren ließen. Lhaten beobachtete Christopher scharf, denn er erwartete weitere Anzeichen von Höhenkrankheit. Irgendwann mitten in der zweiten Nacht erfasste eine starke Windböe ihr leichtes Zelt und riss es mit sich in die Dunkelheit.Zu den Gefahren dieser Höhe kam nun auch noch das Risiko, in den frostigen Nächten ungeschützt zu sein.
»Wenn wir weitergehen«, flüsterte Lhaten, »dann geraten wir immer tiefer in all das hinein. Der Wind wird so stark werden, dass er uns das Fleisch von den Knochen reißen kann. Und es wird noch mehr schneien. Nicht ein bisschen, wie bisher, sondern viel mehr. Auch Schneesturm ist möglich. Das überlebt niemand, Sahib. Niemand.«
Aber Christopher wollte nichts hören. Er war in einer Art Hochstimmung, fand Eis und Schnee sogar schön. Er konnte spüren, wie sein Herz schneller schlug, als die Luft immer dünner wurde und sein Blut den Sauerstoffverlust zu kompensieren suchte. Lhaten hörte, wie sich sein Atem beschleunigte, sagte aber nichts. Er wollte, dass die Höhe ihn stoppte. Dann konnte er ihn den Weg zurückführen wie ein Lamm.
Am nächsten Tag erreichten sie den Chumiomo- Gletscher. Von dort ging ein schmaler Seitenpfad zum ersten Pass. Der Anstieg war steil, und Christopher musste mehr als einmal stehen bleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Beim Gehen stützte er sich jetzt schwer auf einen dicken Stock. Das Atmen bereitete ihm immer mehr Mühe, und Lhaten fragte sich, wann die Erschöpfung ihn zwingen werde, aufzugeben und umzukehren.
Sie steckten gerade mitten in einem Hohlweg, als die Lawine kam. Zuerst hörte man ein leises Poltern, das rasch anschwoll, als ob ein Schnellzug aus einem dunklen Tunnel auf sie zuraste. Lhaten erkannte das Geräusch sofort. Entsetzt schaute er um sich und sah, dass sie in der Schlucht gefangen waren. Eine riesige Masse von Schnee, Felsbrocken und feinem weißen Nebel sauste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den steilen Abhang zu ihrer Linken herunter. Die ganze Welt schien zu beben. Es krachte und hämmerteohrenbetäubend, als Tonne auf Tonne losgerissener Materie ihnen entgegenstürzte.
Wie zur Salzsäule erstarrt, sahen sie es kommen: Schneekristalle spritzten schimmernd in die Luft, funkelten im Licht, tanzten im Raum, bis sie taumelnd niedersanken. Das Ganze hatte eine eigene Schönheit, es wirkte fast schwerelos, weiß und rätselhaft, geformt aus Luft und Wasser, so fein wie Wolken oder Nebel … Und so zerstörerisch wie gehämmerter Stahl.
Lhaten besann sich als Erster und packte Christopher am Arm.
»Lauf!«, brüllte er, aber seine Stimme wurde von dem anschwellenden Donner verschluckt.
Christopher stand da wie in Trance. Seine Beine waren wie Blei und wollten sich nicht mehr bewegen.
»Wir müssen rennen, Sahib«, brüllte der Junge wieder, aber das Dröhnen riss seine Worte fort wie leichte Federn. Er zerrte Christopher mit sich.
Der folgte Lhaten wie einer, der im Traum durch einen zähen Sumpf zu waten versucht. Als die ersten Schneebrocken sie hart trafen, schoss Angst in Christopher hoch, und er spürte, wie seine Beine wieder Kraft gewannen. Hinter Lhaten lief er seitlich einen schmalen Steig hinauf. Es war, als flögen sie senkrecht die Felswand hinan.
Ein Schlag traf ihn am Arm, ein anderer am Bein. Die Welt vor ihm wurde schneeweiß. Lhaten verschwand in einer Wolke blitzender Kristalle.
Christopher lief weiter, obwohl ihm fast die Lunge zerplatzen wollte und er verzweifelt nach Luft rang. Er glaubte, sein Herz müsste versagen, so wild schlug es in seiner Brust. Er strauchelte, kam wieder auf die Beine und schleppte sich weiter. In seinen Ohren heulte es, und er sah nur noch rot vor den Augen. Jeder Schritt erforderte jetzt übermenschlicheAnstrengungen. Die Welt versank im Schnee. Alles Licht, alle Geräusche waren dahin. Der Körper wurde ihm schwer, die Beine wollten nicht mehr, und er stürzte vornüber.
Dann
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