Der neunte Buddha - Thriller
Blick zu. Der Schneefall hielt an. Die Flocken verfingen sich im Haar des alten Mannes und bedeckten die Kissen, auf denen er saß.
»Wieso glauben Sie, dass Ihr Sohn hier ist, Mr. Wylam? Was für einen Grund sollte es dafür geben?«
»Den Grund kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass ein Mann namens Samjatin die Entführung meines Sohnes angeordnet hat. Seine Weisung brachte ein Mönch namens Tsewong aus Tibet nach Kalimpong. Tsewong ist tot, aber bei ihm wurde ein Brief gefunden, der ihn als Ihren Abgesandten identifizierte. Der schottische Missionar Carpenter in Kalimpong hat mir gesagt, mein Sohn sei von einem Mongolen namens Mishig nach Tibet gebracht worden. Mishig ist Samjatins Agent.«
Der Dorje Lama hörte sich all das mit gesenktem Kopf an, als bedrückten ihn Christophers Worte. Ein langes Schweigen folgte.
»Sie wissen viel, Wylam-la«, sagte er schließlich. »Sehr viel. Und auch wieder sehr wenig.«
»Aber ich habe doch recht. Mein Sohn ist hier, nicht wahr?«
Der Abt faltete die Hände.
»Ja«, sagte er. »Sie haben recht. Ihr Sohn ist hier. Er lebt und ist gesund. Er wird mit größter Aufmerksamkeit umgeben. Sie brauchen sich um ihn keine Sorgen zu machen.«
»Ich will ihn sehen. Lassen Sie mich sofort zu ihm.« Christopher erhob sich. Er fühlte sich schwach und war wütend.
»Es tut mir leid«, erklärte der Abt. »Das ist nicht möglich. Sie verstehen so vieles noch nicht. Aber er ist nicht mehr Ihr Sohn. Das sollten Sie zu begreifen versuchen. Um Ihrer selbst willen. Bitte versuchen Sie zu erfassen, was ich sage.«
»Was haben Sie mit ihm vor?« Christopher hatte unwillkürlich die Stimme erhoben. Er hörte ihr Echo in dem leeren, verschneiten Raum widerhallen. »Warum wurde er hierhergebracht?«
»Das ist auf meine Bitte geschehen. Ich wollte, dass ernach Dorje-la kommt. Er selbst versteht es auch noch nicht. Aber mit der Zeit wird er es erkennen. Machen Sie es ihm bitte nicht noch schwerer. Verlangen Sie nicht, ihn zu sehen.«
Der Abt griff nach unten und nahm eine kleine Silberglocke von einem niedrigen Tischchen. Er läutete sie sanft. Feine, zitternde Töne erklangen im Raum, als würde Kristall angeschlagen. Es roch nach abgestandenem Weihrauch wie nach verwelkten Blumen an einem Grab.
»Sie müssen jetzt gehen«, sagte der Abt. »Aber wir sehen uns wieder.«
Hinter Christopher erklangen Schritte. Er wandte sich um und sah den Mann, der ihn hergeführt hatte. Als sie den Raum verlassen wollten, ertönte noch einmal die Stimme des Abts aus dem Schatten.
»Bitte, seien Sie klug, Mr. Wylam. Versuchen Sie nicht, Ihren Sohn zu finden. Wir wollen nicht, dass Ihnen etwas zustößt. Aber Sie müssen selber etwas dafür tun. Sie haben Tsarong Rinpoches Warnungen ignoriert. Schlagen Sie meine nicht auch in den Wind.«
25
Christopher wurde in den Raum zurückgeführt, wo man ihn zuvor festgehalten hatte. Stundenlang saß er nun in der Stille, dachte nach und versuchte, sich in der neuen Lage zurechtzufinden. Die Mitteilung, dass William am Leben war und hier in Dorje-la gefangen gehalten wurde, bewegte ihn tief. Er brauchte Zeit, um zu überlegen und zu entscheiden, was er als Nächstes tun sollte.
Mehrmals ging er zum Fenster und schaute auf den Pass hinaus. Einmal erblickte er eine Gruppe Mönche, die sich auf einem schmalen Pfad von dem Kloster entfernten. Er sahihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren. Später entdeckte er einen Mann, der von einem Punkt oberhalb des Passes in Richtung Kloster lief. Von Zeit zu Zeit hörte er Gesang, begleitet vom gleichmäßigen Schlagen einer Trommel. Auf einer Terrasse links unter ihm saß stundenlang ein alter Mönch und drehte eine große Gebetsmühle. Bei Sonnenuntergang heulte das Horn wieder auf dem Dach in die sinkende Dunkelheit hinein. Es war ganz nah und klang jetzt laut und stark.
Ein Mönch kam und stellte ihm etwas zu essen hin, zündete seine Lampe an und ging wieder, ohne auf seine Fragen zu reagieren. Da standen Suppe, Tsampa und eine kleine Teekanne. Er aß langsam und mechanisch, kaute und schluckte die Bällchen aus geröstetem Gerstenmehl ohne jeden Genuss. Als er fertig war, nahm er den Deckel von der Teekanne ab, um sich einzugießen.
Da sah er ein Papier, das, mehrfach zusammengefaltet, in den Deckel gepresst war. Christopher nahm es heraus und faltete es auseinander. Auf den Zettel hatte jemand mit eleganter Umay-Handschrift etwas auf Tibetisch geschrieben. Unten folgte eine kleine Zeichnung – mehrere einander
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