Der neunte Buddha - Thriller
überschneidende Linien, die für ihn keinen Sinn ergaben.
Er legte das Blatt auf den Tisch neben dem Bett, wo das Lämpchen brannte. Die tibetische Schrift kannte er nicht besonders gut, aber mit etwas Mühe gelang es ihm, den größten Teil des Textes entziffern:
Man hat mir gesagt, Sie sprechen unsere Sprache. Aber ich weiß nicht, ob Sie sie auch lesen können. Ich kann nur schreiben und hoffe, dass Sie diesen Brief verstehen. Wenn Sie ihn nicht lesen können, werde ich eine Möglichkeit finden, jemanden zu Ihnen zu schicken. Aber das kann schwierig werden. Der Trapa, der Ihnen das Essen bringt, weißnicht, dass ich diese Nachricht in ihre Teekanne gelegt habe. Sprechen Sie ihn nicht darauf an.
Man hat mir gesagt, Sie seien der Vater des Kindes, das aus dem Lande der Pee-lings zu uns gebracht worden ist. Ich habe noch andere Dinge gehört, aber ich weiß nicht, ob ich sie glauben kann.
In Dorje-la droht Ihnen Gefahr. Seien Sie stets auf der Hut. Ich möchte Ihnen helfen, aber ich muss selber vorsichtig sein. Ich kann nicht zu Ihnen kommen, also müssen Sie mich aufsuchen. Heute Abend wird Ihre Tür nicht verschlossen sein. Wenn Sie sie offen finden, dann folgen Sie der Skizze, die ich unten auf diesen Brief gezeichnet habe. Sie wird Sie zum Gön-kang führen. Dort erwarte ich Sie. Aber achten Sie darauf, dass Sie niemand sieht.
Der Brief trug keine Unterschrift. Christopher las ihn mehrmals, um sicherzugehen, dass er alles richtig verstanden hatte. Da er nun wusste, dass die Zeichnung eine Karte sein sollte, glaubte er, sie deuten zu können, auch wenn er die dort aufgezeichneten Gänge und Räume noch nie gesehen hatte.
Er stand auf und trat zur Tür. Sie war verschlossen. Seufzend ging er zum Bett zurück. Unruhe erfasste ihn, da sich ihm endlich eine Möglichkeit zum Handeln bot. Wer hatte ihm diese Nachricht geschickt? Er kannte niemanden in Dorje-la. Und warum sollte einer der Mönche ihm, einem Fremden, helfen wollen?
In den nächsten Stunden ging er mehrmals zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Stets war sie verschlossen. Er glaubte schon, der rätselhafte Briefschreiber sei wohl nicht in der Lage gewesen, seinen Plan auszuführen. Die letzte Andacht des Tages war verklungen, die Mönche waren zur Nacht in ihre Zellen zurückgekehrt, und endlich senkte sich tiefes Schweigen über Dorje-la. Etwa eine Stunde später hörte er, dass sich jemand an seiner Tür zu schaffen machte. Er standauf und schlich sich vorsichtig an sie heran. Stille. Er ergriff den Knauf und drehte daran. Die Tür ging auf.
Schnell griff er nach seiner Lampe und trat auf den Gang hinaus. Er war lang, nur ganz am Ende brannte ein Butterlämpchen. Niemand war zu sehen. Er spürte, dass das Kloster schlief. Auf dem Gang war es kalt.
Nach einem kurzen Blick auf die Zeichnung bewegte er sich langsam nach rechts. Dort mündete der Gang in einen anderen ein. Der zweite verschwand im Dunkel. Von Zeit zu Zeit gab es auch dort Lämpchen, die ihre Umgebung schwach erleuchteten. Im fahlen Licht seines eigenen schienen sich die Figuren an den bemalten Wänden zu beleben, sich in qualvollen Bewegungen zu winden. Überall herrschte Rot vor. Gesichter traten aus der Dunkelheit und verschwanden wieder. Hände bewegten sich. Zähne wurden gebleckt. Gerippe tanzten.
Je weiter Christopher in das schlafende Kloster hineintappte, desto mehr wurde ihm das Alter dieses Ortes bewusst. Er konnte erahnen, wie sich seine Umgebung nach und nach veränderte. Geologischen Schichten gleich enthüllten ihm die einzelnen Teile des Gompa, wie sie Stück für Stück errichtet worden waren. Je weiter er vordrang, desto besser erkannte er die urtümliche Qualität der Gemälde und Schnitzereien. Chinesischer Einfluss wich indischem und dieser, so weit Christopher erkennen konnte, einem frühen tibetischen Stil. Beklommenheit ergriff von ihm Besitz. Das war ein Kloster, wie er es noch nie erlebt hatte.
Der Gang endete an einer niedrigen Tür, zu deren beiden Seiten Schutzgötter an die Wände gemalt waren. Zwei brennende Fackeln steckten in den Mauern. Dies musste einer der ältesten Teile des Klosters sein. Christopher schätzte ihn auf möglicherweise eintausend Jahre.
Er stand am Eingang zum Gön-kang, dem düstersten undgeheimsten Ort in jedem Gompa . Christopher hatte bisher nur Beschreibungen aus dem Munde tibetischer Freunde gehört, aber selber noch nie einen betreten. Es waren düstere Gemächer, enge kryptaartige Kapellen, in denen die Masken für die
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