Der neunte Buddha - Thriller
geschrieben hatte. Aber jetzt, da er vor ihm stand, wurde er plötzlich misstrauisch. War das vielleicht nichts anderes als eine raffinierte Falle, die ihm Samjatin oder Tsarong Rinpoche gestellt hatte? Er befand sich im Allerheiligsten des Klosters. War das von Anfang an der eigentliche Plan gewesen, jemandem einen Vorwand zu liefern, um ihn zu töten?
Die Figur regte sich – nicht abrupt, wie jemand, der erschreckt hochfährt, sondern sanft, als ob sie gerade aus dem Schlaf erwacht sei und noch halb in der Welt ihrer Träume weilte. Der Mönch stand auf und drehte sich um. Ein Schatten lag auf seinem Gesicht, das nicht zu erkennen war. »Siesind also gekommen«, sagte er. Die Stimme war sanft wie die eines Mädchens. Christopher vermutete, der Mönch sei ein Ge-tsul, ein Novize. Aber was konnte ein Novize von ihm wollen?
»Haben Sie den Brief geschrieben?«, fragte Christopher und trat einen Schritt vor.
»Bitte! Kommen Sie nicht näher«, sagte der Mönch und wich in den Schatten zurück.
Christopher fröstelte. Er spürte, dass der Ge-tsul nervös und von seiner Anwesenheit geängstigt war.
»Warum haben Sie mich hergerufen? Was wollen Sie von mir?«
»Sie sind der Vater des Pee-ling -Kindes?«
»Ja.«
»Und Sie sind aus weiter Ferne hergereist, um es zu finden?«
»Ja. Wissen Sie, wo mein Sohn ist? Können Sie mich zu ihm bringen?«
»Tschsch! Sprechen Sie nicht so laut. In Dorje-la haben die Wände Ohren.« Er hielt inne. »Ja«, fuhr er fort, »ich weiß, wo Ihr Sohn festgehalten wird. Und ich kann Sie dorthin bringen.«
»Wann?«
»Nicht jetzt. Vielleicht müssen Sie noch einige Tage warten.«
»Ist er in Gefahr?«
Der Novize zögerte.
»Nein«, sagte er dann. »Das glaube ich nicht. Aber irgendetwas geht in Dorje-la vor, das ich nicht verstehe. Ich glaube, wir werden alle sehr bald in Gefahr sein.«
»Ich möchte William von hier wegholen. Ich will mit ihm über die Pässe zurück nach Indien. Können Sie mir dabei helfen?«
Der Novize schwieg. Die Schatten über der kleinen Gestalt vor dem Altar verdichteten sich.
»Ich kann Ihnen helfen, ihn von Dorje-la fortzubringen«, sagte er schließlich. »Aber der Weg nach Indien ist zu riskant. Wenn Sie wollen, dass Ihr Sohn diesen Ort lebend verlässt, dann müssen Sie mir vertrauen. Werden Sie das?«
Christopher hatte keine Wahl. Wie rätselhaft das alles auch war, hier stand sein einziger Verbündeter in einer Welt, die er nicht verstand.
»Ja«, antwortete er. »Ich will Ihnen vertrauen.«
»Schwören Sie das bei Ihrem Leben?«
»Ja.«
»Beim Leben Ihres Sohne?«
Er schwankte. Aber Williams Leben war bereits aufs Höchste gefährdet.
»Ja.«
»Gehen Sie in Ihren Raum zurück. Ich werde Ihnen eine zweite Botschaft schicken. Achten Sie darauf, alle Briefe sorgfältig zu vernichten, die ich Ihnen schreibe. Und sprechen Sie mit niemandem darüber. Mit niemandem, verstehen Sie? Selbst wenn Sie glauben, es sei ein Freund. Versprechen Sie mir das?«
»Ja«, flüsterte Christopher. »Ich verspreche es.«
»Sehr gut. Jetzt müssen Sie gehen.«
»Wer sind Sie?«, fragte Christopher.
»Bitte, stellen Sie keine Fragen. Später, wenn wir in Sicherheit sind, sage ich es Ihnen. Aber nicht jetzt. Jetzt ist es zu gefährlich.«
»Aber wenn etwas passiert? Wie soll ich Sie finden?«
»Suchen Sie mich nicht. Ich finde Sie, wenn die Zeit gekommen ist. Bitte gehen Sie jetzt.«
»Lassen Sie mich wenigstens Ihr Gesicht sehen.«
»Nein, bitte nicht!«
Aber Christopher hatte bereits seine Lampe erhoben und einen Schritt vorwärts getan, so dass das Licht die Schatten vor ihm vertrieb. Der rätselhafte Fremde war kein Novize und auch kein Mönch. Lange Strähnen pechschwarzen Haares rahmten zarte Gesichtszüge ein. Eine bestickte Tunika schmiegte sich an eine schlanke Figur. Der Fremde war eine Frau. In dem schwachen Licht funkelten ihre grünen Augen, und das gelbe Flämmchen warf goldene Punkte auf ihre Wangen. Auf ihrem Haar lag goldene Asche.
Erschrocken starrte sie Christopher an. Mit einer Hand versuchte sie, ihr Gesicht vor seinem Blick zu verbergen. Er tat noch einen Schritt, aber sie wich immer weiter in den Schatten zurück. Er hörte, wie ihre Füße leicht über den steinernen Fußboden huschten. Die Lampe hochhaltend, versuchte er, ihr zu folgen. Doch das Licht traf nur auf Figuren aus Stein und Gold. Die Farben an den Wänden blätterten ab und zerfielen allmählich zu Staub. Hier stand die Zeit still. Die farbenprächtigen Bilder von
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