Der neunte Buddha - Thriller
mit langen Ohrklappen, die ihr bis auf die Schultern hingen. Das Gesicht des Mannes lag teilweise im Schatten. Es schien zerfurcht und voller Trauer. Die war vor allem in den Augen zu lesen. Christopher stand vor ihm, ohne zu wissen, was er tun oder sagen sollte. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er keinen Khatag bei sich hatte, um das Begrüßungsritual zu vollziehen. Einige Zeit verging, dann hob der Fremde die rechte Hand.
»Bitte«, sagte er, »nehmen Sie Platz. Sie müssen nicht stehen. Ich habe einen Stuhl für Sie bringen lassen.«
Christopher bemerkte einen niedrigen Stuhl zu seiner Linken. Betreten setzte er sich. Er spürte den Blick des alten Mannes, der ihn mit größtem Interesse und tiefer Schwermut zugleich musterte.
»Mein Name ist Dorje Losang Rinpoche. Ich bin der Dorje Lama, der Abt dieses Klosters. Man hat mir gesagt, Ihr Name sei Christopher, Christopher Wylam.«
»Ja«, sagte Christopher. »Das ist richtig.«
»Sie sind von weit hergereist«, sagte der Dorje Lama.
»Ja«, antwortete Christopher verlegen und mit belegter Stimme. »Von Indien. Von Kalimpong.«
»Von noch weiter her«, widersprach ihm der Abt.
»Ja«, stimmte Christopher ihm zu. »Von noch weiter her.«
»Warum sind Sie gekommen? Bitte sagen Sie mir die Wahrheit.Niemand unternimmt diese Reise aus einem trivialen Grund: Es muss um Leben und Tod gehen, ehe ein Mann bis hierher kommt. Weshalb sind Sie gekommen?«
Christopher zögerte. Er fürchtete den Abt und misstraute ihm. Dieser Mann hatte eine Hauptrolle bei allem gespielt, was bisher geschehen war. Nach seiner Kenntnis war selbst Samjatin nur ein Bauer in einem größeren Spiel.
»Man hat mich hergebracht«, erwiderte er. »Drei Ihrer Mönche, Tsarong Rinpoche und zwei Trapas haben das getan. Tsarong Rinpoche hat meinen Führer, einen nepalesischen Jungen namens Lhaten, getötet. Das tat er nur, weil Lhaten verletzt war. Bevor ich auch nur eine Ihrer Fragen beantworte, fordere ich Gerechtigkeit für den Jungen.«
»Sie äußern einen schweren Vorwurf.« Der Abt beugte sich nach vorn, als wollte er in Christophers Zügen nach der Wahrheit forschen.
»Das ist nicht das Einzige, was ich vorzubringen habe. Ich bin Tsarong Rinpoche schon zuvor in Kalimpong begegnet. Er hat zugegeben, dort einen weiteren Mann ermordet zu haben – einen irischen Arzt namens Cormac. Wussten Sie das? Hat er auf Ihren Befehl gehandelt?«
Der Abt seufzte und richtete sich wieder auf. Sein Gesicht war das eines alten Mannes, und es war sehr blass. Die Augen blickten immer noch tieftraurig, aber Christopher glaubte jetzt etwas anderes darin zu entdecken. Mitgefühl? Liebe? Bedauern?
»Nein«, sagte er. »Er hat nicht auf meinen Befehl gehandelt. Ich hatte keinen Grund, den Tod des Arztes oder Ihres Führers zu wünschen. Das müssen Sie mir glauben. Ich wünsche keinem fühlenden Wesen den Tod. Mein Ziel auf Erden ist es, Leiden zu mildern, soweit ich es vermag. Wenn Tsarong Rinpoche einen Fehltritt begangen hat, wird er dafür bestraft werden.«
Der Abt hielt inne und schnäuzte sich leise in ein kleinesTaschentuch, das er aus seinem langen Ärmel zog. Diese banale Handlung des Mannes beruhigte Christopher mehr als seine Worte.
»Tsarong Rinpoche hat mir gesagt«, fuhr der Abt fort, »dass er Ihnen an der Grenze zu Tibet unmittelbar unter dem Sebu-la begegnet ist. Trifft das zu?«
Christopher nickte.
»Ja.«
»Er hat mir auch berichtet, er habe Sie gewarnt, Indien zu verlassen und ja nicht zu versuchen, in Tibet einzudringen. Trifft das ebenfalls zu?«
»Ja. Auch das trifft zu.«
»Man hat Sie also vor möglichen Gefahren gewarnt. Gefahren für Sie selbst und jeden, der mit Ihnen reist. Sie haben einen Weg gewählt, von dem Sie wissen mussten, dass er nahezu unpassierbar ist. Tsarong Rinpoche sagte mir, er glaube, Sie hätten nach diesem Ort, dem Dorje-la, gesucht. Trifft auch das zu?«
Jetzt sagte Christopher nichts mehr.
»Sie bestreiten es nicht? Daraus muss ich schließen, dass etwas sehr Wichtiges Sie hierhergeführt hat. Oder sollte ich sagen ›getrieben hat‹? Was könnte das sein, Wylam-la? Können Sie es mir sagen?«
Christopher schwieg eine Weile und blickte nun seinerseits den alten Mann fest an. »Was mich hierher geführt hat, ist keine Sache«, sagte er schließlich. »Es ist ein Mensch. Mein Sohn. Er heißt William. Ich glaube, dass er sich in diesem Kloster befindet. Ich bin gekommen, um ihn nach Hause zu holen.«
Wieder warf der Abt Christopher einen tiefbetrübten
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