Der neunte Buddha - Thriller
unweigerlich die Balance verlieren und von dem Steg gefegt würde, wenn er auch einen einzigen Augenblick in seiner Konzentration nachließ. Zweimal packte ihn ein Aufwind von unten und begann ihn auszuheben, wobei die Chuba wie ein Segel wirkte. Aber er kauerte sich zusammen und legte sich flach auf die Oberfläche der Brücke, bis die Böe vorüber war. Seine Finger wurden so steif und gefühllos, dass er kaum noch richtig zufassen konnte. Er sah, hörte und fühlte nichts mehr. Dieser Gang über die Brücke war ein einziger Willensakt, nichts anderes.
Es schien ihm, als dauere er mehrere Lebensspannen. Die Zeit schien stillzustehen, während er endlos durch den Raum kroch. Sein bisheriges Leben war nur noch ein Traum. Realität war allein diese Bewegung in der Finsternis, das Warten darauf, dass der Wind ihn in die Arme nahm und mit ihm spielte, bis er ihn endgültig wie eine Puppe auf zerklüfteten Felsen zerschellen ließ.
»Wieso haben Sie so lange gebraucht?« Es war Chindamanis Stimme, die aus der Dunkelheit zu ihm drang. Er warauf der anderen Seite angelangt, kroch aber weiter, als würde die Brücke nie ein Ende nehmen.
»Sie können jetzt aufstehen«, sagte sie. »Hier ist es geschützter als auf dem Dach.«
Erst da bemerkte er, dass der Wind nachgelassen hatte und ihm nicht mehr so heftig ins Gesicht blies, wenn er sich ihm zuwandte. Sie stand neben ihm, klein und lächerlich rund in der riesigen Chuba . Ohne nachzudenken, nur von der Verzweiflung getrieben, die ihn bei der Überquerung der Brücke erfasst hatte, ging er zu ihr und zog sie an sich. Sie sagte nichts und stieß ihn nicht zurück, sondern ließ ihn gewähren. Die dicken Chubas trennten ihre Körper so wie die Dunkelheit oder Chindamanis zahlreiche Leben. Sie erlaubte ihm, sie zu umarmen, obwohl sie wusste, dass sie das nicht durfte, denn keinem Mann war es je gestattet. Eine große Furcht ergriff von ihr Besitz. Sie konnte sie noch nicht benennen, aber sie wusste, dass sie mit diesem merkwürdigen Mann zusammenhing, dessen Schicksal auf so grausame Weise mit ihrem verbunden war.
»Es ist Zeit«, sagte sie schließlich. Er hatte sie nicht geküsst oder auch nur ihre Haut berührt, aber sie musste sich von ihm lösen, bevor die Furcht sie übermannte. Bisher hatte sie nicht erlebt, dass Furcht und Begierde so nahe beieinanderliegen konnten.
Sachte gab er sie frei und entließ sie in die Nacht. Sie hatte nach Zimt geduftet. Seine Nasenflügel waren voll von diesem Duft. Nicht einmal der Wind konnte ihn vertreiben.
Sie führte ihn über ein teilweise vereistes nacktes Felsplateau. Über ihnen ragte der Berg steil in die Finsternis auf – eine riesige, unsichtbare Masse, die man mehr spürte als sah. Obwohl der Platz vor der grimmigen Felswand geschützter war, kam es Christopher hier noch kälter vor.
»Sie nennen ihn Ketsuperi«, sagte sie.
Christopher verstand nicht.
»Den Berg«, erklärte sie. »Das bedeutet ›der Berg, der bis zum Himmel reicht‹.«
Sie traten dicht an die Felswand heran. Chindamani legte ihre Hand auf den Stein und drückte. Etwas bewegte sich, und Christopher sah eine kaum sichtbar in die Wand gehauene Tür. Licht strömte heraus. Es kam von Lampen, die drinnen hinter der Tür hingen. Chindamani drückte noch einmal, und die Tür gab den Weg frei.
Vor ihnen lag ein etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Meter langer Gang. Man hatte ihn in den nackten Stein gehauen, aber die Wände waren geglättet und verputzt. Von der Decke hingen an feinen Goldketten reichverzierte Lampen. Sie flackerten in dem Luftzug, der durch die offene Außentür hereinwehte.
Chindamani schloss die Tür und nahm die Kapuze ab. In dem Gang war es viel wärmer als draußen.
»Wo sind wir hier?«, fragte Christopher.
»In einem Labrang «, antwortete sie. »Hier leben die Inkarnationen von Dorje-la, wenn sie von ihren Familien getrennt und ins Kloster gebracht werden. Der gegenwärtige Abt, Ihr Vater, war nicht hier. Er wurde von Anfang an im obersten Geschoss des Hauptgebäudes einquartiert. So viel ich weiß, hat er nie einen Fuß hierhergesetzt.« Sie hielt inne.
»Als Sie mich draußen gehalten haben«, sagte sie zögernd, »was haben Sie da gespürt? Was haben Sie gedacht?«
Diese Fragen ängstigten sie, denn sie kamen aus einem Teil ihres Bewusstseins, der bisher in tiefem Schlaf gelegen hatte. Noch nie hatte sie fragen müssen, was ein anderer von ihr dachte. Das kam daher, dass sie Tara war, nicht in Fleisch und Blut, aber im
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