Der neunte Buddha - Thriller
Papiere zu unterzeichnen, worin er auf alle Macht verzichtete. Sie setzten ihn in seinem Palast fest. Er ist jetzt ein blinder alter Mann. Und sein Volk glaubt nicht mehr an ihn. Samjatin will unseren Herrn Samdup nach Urga bringen und ihn dort auf den Thron setzen.«
»Sie sagten, der gegenwärtige Hutuktu sei keine passendeHülle mehr. Sein Volk glaube nicht mehr an ihn. Was meinen Sie damit?«
Chindamani schien es etwas peinlich zu sein, mit ihm über solche Dinge zu reden.
»Ich weiß nur, was Sönam mir gesagt hat«, antwortete sie. »Der gegenwärtige Hutuktu wurde vor fünfzig Jahren in einem Dorf in der Nähe von Lhasa geboren. Von Kindesbeinen an stellte man bei ihm Anzeichen für mangelnde Tauglichkeit fest, eine Art … Spannung zwischen dem Mann und dem Geist, den er verkörperte. Das kommt vor. Es ist, als sei im Augenblick der Inkarnation etwas schiefgegangen.«
Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: »Der Hutuktu begann zu trinken. Er heiratete – nicht nur einmal, sondern zweimal. Seine zweite Frau ist eine Hure. Sie lädt Männer in ihr Zelt ein – junge Männer, Trapas, die es eigentlich besser wissen müssten. Aber er ist noch schlimmer. Er schläft mit Männern und Frauen.
Einige Lamas haben sich bereits vor Jahren über ihn beschwert. Sie sagten, er bringe den Glauben in Misskredit und das Amt des Hutuktu in Verruf. Er ließ sie töten. Jetzt wagt keiner mehr, etwas offen gegen ihn zu sagen.«
Sie warf Christopher einen Blick zu, unsicher, wie er das aufnehmen werde.
»Habe ich Sie schockiert?«, frage sie. »Glauben Sie, so etwas sei unmöglich?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, was in Ihrer Welt möglich ist«, erwiderte er. »Ich sehe nichts Merkwürdiges darin, dass ein Mann gerne trinkt oder eine Frau haben will. Ein Mann ist ein Mann, wen immer er verkörpert.«
Sie erfasste die unausgesprochene Folgerung aus dem, was er da sagte: Eine Frau ist eine Frau, wer immer in ihrem Leib haust.
»So etwas passiert zuweilen«, sagte sie. »Beim sechsten Dalai Lama war es auch so. Der Große Fünfte war verstorben, als am Potala-Palast in Lhasa noch gebaut wurde. Zehn Jahre lang hielt der Regent seinen Tod vor dem Volk geheim. Er behauptete, der Dalai Lama habe sich zur Meditation zurückgezogen. Als man den Sechsten endlich fand, war er bereits dreizehn Jahre alt. Er hatte in der Welt gelebt. Er hatte an Blumen gerochen und gespürt, was Verlangen ist.
Er wurde nach Lhasa gebracht und im Potala-Palast eingesperrt. Dort war es dunkel und kalt. Er hasste das. Er wollte in der Sonne unter gewöhnlichen Menschen leben, sie aber ließen ihn im Dunkeln in der Gesellschaft von Göttern und Priestern hausen.«
Christopher konnte Mitgefühl in ihrer Stimme hören. Sie brachte ihre eigenen Sehnsüchte zum Ausdruck, sprach ihre eigenen Gedanken aus.
»Später, als er alt genug war, um selbst über das zu bestimmen, was er tat, ging er nachts, als gewöhnlicher Mann verkleidet, heimlich in die Stadt. Er suchte Schenken auf und fand Frauen, die mit ihm schliefen. Wenn die Nacht vorüber war, schlüpfte er zurück in die Dunkelheit des Potala. So lebte er jahrelang. Dann kamen die Chinesen. Sie nahmen Osttibet unter ihre Kontrolle. Sie errichteten Garnisonen an der Straße nach Lhasa. Und sie töteten den Dalai Lama.«
Chindamani verstummte.
»Haben die Menschen nicht daran gezweifelt, dass er eine echte Inkarnation war?«
»Nein«, antwortete sie. »Sie haben nie an ihm gezweifelt. Er war milde. Nicht wie der Hutuktu in Urga. Es hieß, er habe zwei Körper – einen echten und ein Phantom. Sie meinten, der echte Körper bleibe im Potala-Palast, während das Phantom durch die Schenken ziehe, um den Glauben der Menschen zu prüfen. Er schrieb Gedichte, Liebeslieder.Aber seine Poesie war traurig. Wie der Geruch eines Sterbenden.«
Sie begann Zeilen aus einem seiner Gedichte zu zitieren:
Hoch oben im Potala grüble ich in dunklen Kammern.
Ich bin ein lebender Gott, ein überirdisches Wesen.
Aber wenn die engen Straßen mich umfangen
und ich im Schatten zwischen Menschen wandle,
bin ich ganz irdisch, ein tanzender König.
Ich bin die Welt, die singen lernt.
In der Stille, die nun folgte, begriff Chindamani zum ersten Mal, wie allein sie bisher gewesen war. Auch die Göttin Tara konnte Menschen aus Fleisch und Blut nicht ersetzen. Sie versuchte, sich das Gesicht ihrer Mutter ins Gedächtnis zu rufen, wie sie sich über sie gebeugt hatte, als sie noch klein war. Aber sie
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