Der neunte Buddha - Thriller
er kein Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann. Williams Haar war an den Schläfen ergraut wie sein eigenes, und in seinem Gesicht sah er bereits Falten. Ob von Kummer oder dem Alter, konnte er nicht sagen. Irgendwoher flüsterte eine Kinderstimme in Christophers Ohr:
»Du bist alt, kleiner William, sagte sein Vater,
Die Jahre haben dein Haar weiß gemacht.
Und doch trägst du es jeden Abend zu Bett.
Schläfst du auch jetzt noch jede Nacht? «
»Du warst lange Zeit fort, Vater«, sagte William. »Wir glaubten, du seist tot. Verschwunden wie Großvater.«
»Ich war tot«, antwortete Christopher. »Aber jetzt bin ich wieder lebendig.«
»Tatsächlich?«, fragte William mit einem kleinen Lächeln.
Er wartete den ganzen Tag auf Chindamani, doch sie kam nicht. Niemand kam außer einem jungen Mönch, der ihm zweimal Essen brachte und ohne ein Wort wieder ging. Amspäten Nachmittag glaubte er, laute, zornige Stimmen zu hören. Aber nach einer Weile verstummten sie, und erneut herrschte Schweigen. Bei Sonnenuntergang wurde das Horn nicht geblasen. Als der junge Mönch erschien, um das Geschirr fortzuräumen, wirkte er verängstigt. Auf Christophers Fragen gab er keine Antwort und lief eilig davon.
Besorgt legte sich Christopher zu Bett. Lange konnte er nicht einschlafen. Er horchte auf Geräusche in der Nacht, doch nur der Wind heulte wie immer. So lag er im Dunkel und wünschte sich, der Schlaf möge kommen. Oder Chindamani, um ihn zu vertreiben. Er kam unbemerkt, als er ihn nicht erwartete.
Das Nächste, woran er sich erinnerte, war eine Gestalt, die sich in der Dunkelheit über ihn beugte. Es war Chindamani, die ihm sofort ihre Hand fest auf den Mund legte. Sie presste ihre Lippen an sein Ohr und flüsterte aufgeregt: »Um unser aller willen, Ka-ris To-feh, machen Sie ja kein Geräusch. Stehen Sie auf, so leise Sie können, und folgen Sie mir. Stellen Sie keine Fragen. Dafür ist jetzt keine Zeit.«
Er spürte das Drängen und die Furcht in ihrer Stimme. Ohne zu zögern, glitt er aus dem Bett und stand auf. Auf dem Nachttisch lag das Messer, das er dem Angreifer zwei Nächte zuvor abgenommen hatte. Er bückte sich und suchte nach seinen Schuhen, aber Chindamani hielt sie ihm bereits hin. Er nahm das Messer und steckte es in einen der Stiefel.
Der Gang vor seiner Tür war stockdunkel. Chindamani nahm ihn wieder bei der Hand. Mit der anderen tastete sie sich an der Wand entlang. Irgendwo waren laute Stimmen zu hören, dann ein dumpfer Schlag, als sei ein großer Gegenstand umgefallen. Christopher glaubte das Getrappel von rennenden Füßen zu hören, bald wurde wieder alles still. Einmal schien es ihm, als hätte er einen unterdrückten Schrei vernommen.
Chindamani tastete sich weiter in der Dunkelheit vorwärts. Sie gingen durch eine Tür. Er hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde, dann erhellte eine Flamme die Dunkelheit. Chindamani zündete ein Butterlämpchen an und stellte es auf einem niedrigen Schrank ab. Dabei zitterte ihre Hand.
Sie war tief verstört. Eine lange Schramme auf ihrer Stirn blutete stark. Christopher wollte ihr das Blut abwischen, aber sie zuckte heftig zurück.
»Was geht hier vor?«, fragte er flüsternd.
»Ich weiß nicht«, erwiderte sie. »Ich habe Lärm gehört und wollte nachsehen. Da war jemand auf dem Korridor, einer der Mönche, dessen Namen ich nicht kenne.
Er … befahl mir, in mein Zimmer zurückzugehen und dort zu bleiben. Er redete mit mir, als wisse er nicht, wer ich bin. Oder es kümmerte ihn nicht. Ich wurde wütend. Ich sagte ihm, er solle sich benehmen und mir erklären, was er an diesem Ort tue. Diese Etage darf niemand ohne Erlaubnis betreten. Er hielt einen Stock in der Hand. Als ich ihn streng ansprach, hat er einfach den Stock gehoben und mich geschlagen. Ich bin zu Boden gefallen. Ich dachte, er würde noch einmal zuschlagen. Aber da rief ihn jemand fort, und er ließ mich allein.
Ich bin sofort zu den Räumen Ihres Vaters gelaufen, um Hilfe zu suchen. Aber dort war niemand. Zumindest …« Sie zögerte. Er sah, wie das Licht der Lampe zitternd und unruhig auf ihrem Gesicht tanzte. Angst stand in ihren Augen. Das Blut lief über eine Augenbraue und färbte die feinen schwarzen Härchen rot.
»Die Mönche, die den Abt bedienen …«, fuhr sie fort, »… waren alle da. Sie …« Sie suchte Halt an dem Schrank. Ihre Hand ergriff den gewundenen Schwanz einer Seeschlange. Sie war leichenblass.
»… Sie waren alle tot«, sagte sie mit belegter Stimme.
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