Der Nine-Eleven-Junge - Bruton, C: Nine-Eleven-Junge - We can be heroes
wieder nach Babykotze, denn du hast überallhin gebrochen. Er hatte immer irgendeinen milchigen Fleck auf der Schulter, aber es hat ihm nie etwas ausgemacht.«
Ich stelle mir meinen Dad vor, die ganze Schulter voll Babykotze, und bei dem Gedanken muss ich lächeln, aber als ich Oma ansehe, hat sie einen sehr abwesenden Ausdruck in den Augen, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern – oder vielleicht auch zu vergessen.
»Ich habe noch einen Pullover, den er mal hier vergessen hat«, sagt sie ein bisschen geistesabwesend. »Ich dachte immer, ich könnte ihn darin riechen, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Trotzdem, hier ist er. Wenn du ihn in deine Gedenkschachtel tun oder ihn einfach behalten möchtest, dann ist es gut.« Sie gibt mir noch eine Plastiktüte, die sie unter dem Tisch hervorholt, aber ich öffne sie nicht. Ich sitze nur da und halte sie auf dem Schoß. Dads Pullover, an dem noch immer sein Geruch haftet. Ich wage es nicht, die Tasche zu öffnen, weil ich zu große Angst habe, ich könnte den Geruch nicht wiedererkennen.
»›Wie hat es sich angefühlt, ihn in die Arme zu nehmen?‹«, liest sie, und jetzt stehen ihr dicke Tränen in den Augen. »Das ist wirklich eine gute Frage. Es sind alles sehr gute Fragen.« Sie lächelt, aber sie sieht mich nicht an. Mit brüchiger Stimme fährt sie fort. »Mal sehen. Als Baby war er immer sehr gern auf dem Arm. Mir kam es vor, als könnte ich ihn nie loslassen.« Siezögert, und ich merke, wie sehr sie gegen die Tränen ankämpft. »Und als Erwachsener umarmte er mich so wunderbar, wie ein Bär. Er wirkte so riesig – mein kleiner Junge war zu einem echten Mann geworden.«
Nachdem sie das gesagt hat, schweigt sie lange. Ich trinke langsam meinen Kakao und versuche mir Priti vorzustellen, wie sie in ihrem Sari die Hochzeitsgäste mit Blütenblättern bestreut (das ist offenbar ihre Aufgabe). Sie feiern eine Hochzeit, während meine Oma und ich hier sind: Eine alte Dame und ein Junge sitzen in der Küche und reden über jemanden, der nie wiederkommen wird.
Oma weint mittlerweile ungehemmt, und ich stehe auf und lege ihr den Arm um die Schulter, was ich immer mache, wenn meine Mum weint. Oma sieht auf und wischt sich die Augen. »Tut mir leid – ich bin eine alberne alte Frau«, sagt sie. »Was war jetzt die letzte Frage? Was er von dir gehalten hat, kleiner Mann?« Sie blickt zu mir hoch und legt mir eine Hand an die Wange. »Er war mit mir einer Meinung«, sagt sie und lächelt durch ihre Tränen. »Er fand, dass du der prächtigste Junge auf der ganzen Welt bist.«
Wir trinken den Kakao aus (Omas Kakao muss eiskalt gewesen sein, als sie ihn endlich trank), und Oma geht sich umziehen und ihr Gesicht anmalen. Ich bleibe am Küchentisch sitzen, aber ich nehme mein Skizzenbuch nicht heraus. Ich sehe mir Dads Buch an, aber nicht das Bild und nicht den Pullover.
Als Oma wieder herunterkommt, holen wir das Schachbrett hervor. Seit Jed hier ist, sind wir kaum zum Spielen gekommen.
»Dad hat Schach gespielt, oder?«, frage ich und denke an die Schachtrophäe in dem kleinen Kinderzimmer.
»Das hat er«, sagt Oma. »Er war zwei Jahre in Folge der Schachchampion seiner Schule!« Sie wirkt stolz, als sie das sagt, so wie Mum, wenn mir etwas Gutes gelingt.
»Mum kann kein Schach«, sage ich und beginne, die kleinen Figuren aufs Brett zu stellen. »Deshalb bin ich froh, dass du mit mir spielst.«
Und dann sagt Oma: »Deine Mum kommt am Montag nach Hause.«
Ich sehe rasch auf, und ein elektrischer Schlag schießt mir durch den Bauch.
»Sie wird nur erst sehen, wie sie allein zurechtkommt«, fährt Oma fort.
Noch ein Stromstoß. Diesmal wird mir übel. Das gute Gefühl von dem Gespräch über Dad versiegt.
»Wenn sie es schafft, kannst du vielleicht schon wieder zu ihr, ehe die Schule beginnt.«
Das Wörtchen »wenn« hängt riesig und widerhallend zwischen uns in der Luft.
»Und wenn nicht?«, frage ich und senke wieder den Kopf.
»Dann sehen wir weiter«, sagt Oma.
»Wird Gary da sein?«, frage ich, ohne aufzugucken.
»Ja«, sagt Oma. »Er holt sie morgen ab.«
»Also ist sie doch nicht allein. Gary kümmert sich um sie.«
»Ja«, sagt Oma.
Ich kann nicht an Mum denken, die nach Hause kommt, ohne dass ich zu ihr darf. Darum versuche ich, an Shakeels Hochzeit zu denken: wie der Bräutigam Limonade trinkt, wie die Frischverheirateten einander in Spiegeln ansehen. Ich versuchemir sogar vorzustellen, wie sich Shakeel während des Festes in Stücke
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