Der Nobelpreis
noch kannte und mir bereitwillig Lenas neue Nummer gab. »Sie heißt jetzt Novitzky und hat einen dreijährigen Sohn, Sven.«
»Und wie geht es ihr?«
Sie zögerte. »Ehrlich gesagt haben wir uns ein bisschen aus den Augen verloren. Ihre Familie und so, das Kind nimmt sie ziemlich in Anspruch … Falls du sie anrufen willst, mach es am besten zwischen vier und fünf. Vorher ist sie meistens mit dem Kleinen unterwegs, danach kommt ihr Mann nach Hause, da ist dann keine Zeit mehr.«
Ich versuchte es trotzdem sofort. Unter der Nummer meldete sich ein Anrufbeantworter. Eine unsympathische Männerstimme erklärte, es handle sich um den Anschluss der Familie Novitzky. Novitzky, was war das überhaupt für ein Name?
Ich las über das Leben der Nobelpreisträgerin Professor Sofía Hernández Cruz, konnte mich nicht konzentrieren, nahm eine Dusche, las weiter, konnte mich immer noch nicht konzentrieren. Ich sah dem Stück Plastikfolie im Fenster zu, wie es sich blähte und wieder schlaff wurde und sich wieder blähte …
Kristina fiel mir ein. Sie saß vielleicht jetzt gerade auch in so einem Loch wie diesem. Bei ihr war es bloß schlimmer, weil ich jederzeit aufstehen und gehen konnte und sie nicht.
Und irgendwie mussten mich diese Papiere auf ihre Spur bringen.
Ich nahm mir den nächsten Packen vor. Juveniles Aggressions-Syndrom, abgekürzt JAS. Davon hatte ich noch nie gehört, aber es klang beeindruckend und rief allerhand Erinnerungen an meine Kindheit wach, auf die ich gut hätte verzichten können. Nicht nur heute, sondern auch für den Rest meines Lebens. Erbitterte Schlägereien auf steinigen Plätzen, geführt mit mörderischer Verbissenheit. Höhnisches Grinsen in den Gesichtern von Jungs, die größer und stärker waren als man selbst und die es einen spüren ließen. Messer, die gezückt wurden, im Sonnenlicht glänzten, die jähe Angst, die einem durch und durch ging, die Angst vor dem, was einem am Ende des Tages noch bevorstehen mochte.
Die Kindheit ist, wenn man alle nachträgliche Verklärung weglässt, eine schreckliche Zeit. Der grässlichste Abschnitt des Lebens. Ein Angebot, wieder zwanzig Jahre alt zu sein, würde ich mir durch den Kopf gehen lassen. Aber noch mal zwölf? Noch mal acht? Nie wieder.
Der Papierstapel enthielt die Entwürfe mehrerer Artikel zu dem Thema JAS, voller Fachwörter, Fußnoten, Formeln, Grafiken und verschlungener Sätze. Soweit ich verstand, hatten neuere Forschungen ergeben, dass die Aggressivität bestimmter männlicher Heranwachsender nichts mit deren Charakter oder Lebensumständen zu tun hatte, sondern eine Krankheit war, ausgelöst durch hormonelle Ungleichgewichte. Ob diese sich im Körper eines pubertierenden Jungen ausgleichen konnten oder nicht, war genetisch festgelegt. Diejenigen, bei denen sie bestehen blieben, litten an JAS und bedurften einer entsprechenden medikamentösen Therapie.
Das Ganze war offenbar eine relativ neue Entdeckung. Was ich vor mir hatte, war der Plan, auf welche Weise die Welt mit dieser Entdeckung bekannt gemacht werden sollte.
Jemand hatte einen Kalender des kommenden Jahrs fotokopiert und handschriftlich Termine für die Veröffentlichung der diversen Artikel eingetragen, dann jedoch wieder durchgestrichen oder mit Fragezeichen versehen. In einem auf den 20. Oktober datierten Schreiben lud die Firma Rütlipharm zu einem Symposium über das Thema JAS nach Acapulco ein und versprach, für Kost, Logis und Reisekosten aufzukommen. Der freie Rand des etwas blass geratenen Ausdrucks war mit Vermerken zu einem Telefonat vom 16. Oktober voll gekritzelt, bei dem es anscheinend darum gegangen war, die Veranstaltung abzusagen.
Zwischen all den Ausdrucken lag ein schlichtes Blatt von einem Notizblock, hellgelb mit zarten roten Linien, auf dem jemand – man durfte vermuten, Reto Hungerbühl – auf Deutsch eine Art To-Do -Liste erstellt hatte.
JAS!!!
P einschärfen, dass wir RK bei Laune halten müssen.
Ergebnisse Juli – September: unbefriedigend, nicht trennscharf genug überlegen: anderes Testverfahren? wo? wie? wie lasse ich Basel außen vor bis zuletzt?
F soll SHC einen Abend übernehmen, P und ich fahren zu RK
Termine SHC klären!
Ich las diese Notizen mit jenem vertrauten wohligen Kribbeln im Bauch, das ich so lange vermisst hatte. Handschriftliche Vermerke fremder Menschen: Es gibt nichts Faszinierenderes. Es ist, als könne man einen Blick direkt in ihr Denken werfen.
Diese Notizen hatte Hungerbühl nur für sich selbst
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