Der Nobelpreis
wissen.«
Er schob mir den Teller mit dem Kohlrabi hin und bedeutete mir, zuzugreifen. Vermutlich ein enormer Vertrauensbeweis. Ich nahm das kleinste Stück, weil ich lügen müsste, wenn ich behaupten wollte, roher Kohlrabi gehöre zu den von mir geschätzten kulinarischen Genüssen.
»Sie erwähnten die leichtbekleideten Frauen«, erklärte Tollar mir die Welt. »Aber überlegen Sie mal – wer bekleidet sie? Die Modemacher. Immer kürzer die Röcke, immer tiefer die Ausschnitte, immer aufreizender die Erscheinung. Der Plan dahinter ist, die Gesellschaft zu sexualisieren. Warum? Einmal, um unsere tierische Natur zu stärken, damit wir uns mehr wie Tiere benehmen – das ist etwas, das Satan immer gefällt.« Tollar sah beim besten Willen nicht so aus, als habe er im Leben überhaupt schon einmal Sex gehabt, von weitergehenden Erfahrungen ganz zu schweigen. »Und zweitens, um Experimenten wie diesem den Boden zu bereiten. Unsere Gesellschaft wird seit Jahrzehnten sexualisiert. Unsere Werte sind völlig verkommen. Deshalb hat man dieser Frau sogar den Nobelpreis zugesprochen, anstatt sie für ihre Versuche davonzujagen!«
»Dahinter steckt am Ende auch Satan?«, mutmaßte ich.
»Natürlich. Was die Gesellschaft anbelangt, ist das sozusagen die Heiligsprechung dieser Frau. Nun kann sie ihre Experimente mit dem Segen aller fortsetzen und ausbauen, und Satan ist seinem Ziel, das menschliche Bewusstsein zu beherrschen, so nahe gekommen wie noch nie.«
»Und wieso ist ihm das so wichtig? Ich meine, offenbar hat er die Welt doch schon ganz gut im Griff. Wird es nicht viel langweiliger werden, wenn er keine Intrigen mehr spinnen muss, sondern bloß noch auf den Knopf zu drücken braucht?«
»Das ist eine zu menschliche Sichtweise. Wir wollen immer Unterhaltung, Entertainment, Action – und damit sind wir auch immer leicht zu kriegen. Doch Satan will erreichen, dass wir uns für ihn entscheiden, ganz bewusst – und wenn wir das tun, dann gehören wir ihm für alle Zeit. Dann hat er gewonnen.«
»Oha«, meinte ich. »Dann steht ja richtiggehend was auf dem Spiel.«
Tollar nickte mit einem ernsten Gesicht jener Art, wie es sonst allenfalls ein engagierter Versicherungsvertreter an den Tag legt. »Alles, Nachbar«, sagte er. »Alles steht auf dem Spiel.«
Eine solche Fülle welterschütternder Einsichten wollte erst einmal verdaut sein, dafür hatte Tollar vollstes Verständnis. Als ich ihm erklärte, mich in mein Zimmer zurückziehen und nachdenken zu wollen, lächelte er nur wissend und entließ mich mit gnädigem Kopfnicken.
Nachdenken musste ich in der Tat. Ich holte die Beute der Nacht hinter dem Schrank hervor, wo ich die Unterlagen, misstrauisch, wie ich nun einmal war, versteckt hatte, breitete alles auf dem Bett aus und versuchte, daraus schlau zu werden. Aber irgendwie konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich hatte zu wenig geschlafen, den ganzen Tag noch nichts gegessen, und es gingen mir allerlei andere Dinge durch den Kopf.
Zum Beispiel musste ich wieder an die Zeit mit Lena denken. Vor allem an die Nächte mit ihr. Wenn schon die ganze Zeit von Sexualisierung die Rede gewesen war: Ja, mein Körper lechzte danach, seiner tierischen Natur endlich mal wieder freien Lauf zu lassen. Es tat weh, so sehr brannte er darauf. Und dann las ich, dass die Versuchsreihen unter der Projektbezeichnung RASPUTIN zum Ziel gehabt hatten, ein Mittel nicht zur Steigerung der Potenz, sondern zur Steigerung der sexuellen Erregbarkeit zu entwickeln. Wie konnte jemand auf die hirnrissige Idee kommen, ein Mittel entwickeln zu wollen, das einen noch geiler machte, als man von Natur aus war? War es nicht die Erlösung vom sexuellen Drang, den man suchte, immer wieder und wieder? War die sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern nicht etwas, das uns plagte und quälte, ausgenommen während jener wenigen Gelegenheiten, zu denen wir dem Drang nachgeben konnten?
Es war unmöglich, vernünftig über diese Dinge nachzudenken; erst recht unmöglich, durch Nachdenken etwas an dem Zustand ändern zu wollen, in dem ich mich befand. Auf diffuse Weise und obwohl mir klar war, dass es mit Lena und mir auf Dauer nicht hätte gut gehen können, wünschte ich mir, es wäre alles anders gekommen. Wünschte ich mir, sie wäre da. Wünschte ich mir … irgendetwas, von dem ich nicht hätte sagen können, was es war.
Ich zog mein Notizbuch hervor und stöberte darin die Nummer einer alten Freundin von Lena auf, die auch da war und mich
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