Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
Vom Netzwerk:
wäre Ihnen höchst widerwärtig gewesen. Wie gesagt, das war, als Sie acht Jahre alt waren oder vielleicht zehn. Ein paar Jahre später dagegen hat alles ganz anders ausgesehen …«
    »Ja«, nickte der Moderator grinsend, »jetzt erinnere ich mich wieder ganz deutlich.« Er bekam vereinzelte Lacher. Sonderlich ernst schien er das Gespräch nicht zu nehmen.
    »Nicht wahr?«, fuhr Sofía Hernández Cruz fort. »Und nun frage ich Sie: Was ist passiert?«
    »Es hat mit den Hormonen zu tun, nehme ich an.«
    »Ohne Zweifel, aber wie genau? Wie funktioniert das? Nicht wahr, die Frage ist doch, auf welche Weise genau diese Hormone unser Denken beeinflussen – denn nichts anderes tun sie. Die Pubertät setzt ein, und auf einmal finden wir Personen des anderen Geschlechts, die noch ein Jahr zuvor Luft für uns waren, interessant, faszinierend, unwiderstehlich – und zwar weil sie dem anderen Geschlecht angehören! Aber wie funktioniert das? Wie bringt uns ein chemischer Stoff dazu – denn nichts anderes ist ein Hormon: ein kompliziert aufgebauter chemischer Stoff –, völlig neue Gedanken zu denken? Völlig neue Bedürfnisse zu entwickeln? Und was sagt uns das über die Natur unseres Bewusstseins? Das ist der Gegenstand meiner Arbeit.«
    »So, wie Sie Hormone beschreiben, klingt das fast, als sprächen wir über irgendwelche gefährlichen Drogen.«
    Sofía Hernández Cruz lehnte sich zurück und lächelte vielsagend, so, als amüsiere sie sich darüber, dass ihrem Gegenüber endlich ein Licht aufgegangen war. »Ja«, sagte sie, »nicht wahr?«
    Tollar sprang auf und drehte den Ton leiser, als dazwischengeschaltete Werbung anfing. »Was halten Sie davon?«, wollte er wissen.
    »Interessant«, sagte ich und musste an die Papiere denken, die ich im Tresor von Reto Hungerbühl gefunden hatte.
    »Weiter nichts?«
    »Was erwarten Sie denn?«
    »Sie haben das Schicksal der Menschheit vor Augen, und alles, was Ihnen dazu einfällt, ist ›interessant‹?«
    »Ist das Schicksal der Menschheit etwa nicht interessant?«, fragte ich zurück. Er hatte ohne Frage einen Sprung in der Schüssel; mir war nur noch nicht klar, wo genau der verlief. Auf alle Fälle hielt ich es für angebracht zu verschweigen, dass mir das Schicksal der Menschheit herzlich gleichgültig war. Das Schicksal eines ganz bestimmten Menschen war alles, was mich interessierte.
    Er nickte zu dem stummen Bildschirm hin und meinte heftig kauend: »Ich kenne das Interview. Sie haben es schon ein paar Mal gesendet, seit sie den Nobelpreis zugesprochen bekommen hat. Sie wird jetzt gleich erklären, wie sie gearbeitet hat. Dass sie ahnungslosen Studenten Hormonspiegel und Hirnaktivitäten gemessen hat, während sie ihnen Pornographie zeigte.«
    »Klingt auf jeden Fall wie ein amüsantes Experiment.«
    »Es ist ein Experiment mit dem menschlichen Bewusstsein. Das ist es, worum es geht. Mit Hilfe sexualmagischer Praktiken soll das menschliche Bewusstsein unter Kontrolle gebracht werden.« Tollar fing an, heftiger zu atmen und heftiger zu kauen. Er fuchtelte mit der Hand in Richtung Bildschirm.
    »Was die Leute hier beklatschen ist nichts anderes als Satanismus.«
    »Ah ja?«, meinte ich. Solche Offenbarungen lähmen mich immer regelrecht. Es war ihm anzusehen gewesen, dass er einen mächtigen Dachschaden hatte, aber dessen konkrete Ausformung kennen zu lernen machte mich erst einmal sprachlos.
    »Nur damit ich das richtig verstehe«, fragte ich nach einer Weile, »die Art von Bekleidung, in der manche Frauen durch die Stadt laufen, sobald die ersten warmen Tage im Jahr anbrechen – ist das auch Satanismus?«
    Seine Augenbrauen hoben sich. Was für eine Grimasse er eventuell außerdem zog, war unter dem wild wuchernden Bart nicht zu erkennen. »Sie spotten«, stellte er fest. »Sie machen sich lustig, weil Sie den Plan dahinter nicht verstehen.«
    »Sie verstehen ihn aber, nehme ich mal stark an.«
    »Das ist ja nun wirklich nicht schwer. Schließlich macht Satan sich einen Spaß daraus, seine Absichten unmissverständlich anzukündigen. Wozu er übrigens verpflichtet ist, denn wenn er uns täuscht, gilt nachher nicht, was er erreicht hat. Sehenden Auges müssen wir in unser Verderben rennen, damit ihm unsere Seelen gehören.«
    Offenbar gehörte er zu der Sorte Verrückter, die ein veritables System in ihre Verrücktheit gebracht haben. Ich zog einen Küchenstuhl heran und setzte mich. »Dann erzählen Sie mir, wie der Plan aussieht. Das wollte ich schon immer mal

Weitere Kostenlose Bücher