Der Nobelpreis
Und sowohl das eine als auch das andere war als glatter Betrug geplant. Der Test sollte so konzipiert werden, dass er etwa dreißig Prozent aller männlichen Jugendlichen als JAS-positiv diagnostizieren würde. Was dabei tatsächlich getestet würde, war Hungerbühl egal. Vielleicht das Testosteron-Level, hatte er notiert und sich anschließend Gedanken darüber gemacht, dass sich die Zulassungsbehörden mit einem Test auf genetischer Basis vielleicht doch leichter austricksen ließen: Man könnte irgendwelche Rezeptoren auf der Zellwand zur Grundlage des Tests machen.
Der entscheidende Vorteil der JAS -Theorie war, dass sie die Möglichkeit von vornherein einschloss, dass manchmal kreuzbrave, stille Duckmäuser JAS -positiv sein würden: In dem Fall konnte man einfach behaupten, die Anlagen seien zwar da, aber eben nicht zum Ausdruck gekommen. Und das dann mit einem imposant klingenden lateinischen Begriff belegen. »So was wie vegetative Dystonie oder wie die Verlegenheitsdiagnosen sonst so lauten«, hatte Hungerbühl notiert. Die Therapie schließlich bestand einfach darin, den betreffenden Kindern einen geeigneten Mix aus Psychopharmaka zu verabreichen, der ihnen die Lust an Schlägereien nehmen sollte.
»Das ist alles eine einzige große Schweinerei«, sagte ich, nachdem ich Dimitri bis hierher in groben Zügen über den Inhalt des Dokuments aufgeklärt hatte, »bloß für Kristina bringt das überhaupt nichts. Wäre ein gefundenes Fressen für die Zeitungen, wenn die nicht alle gekauft wären, aber ansonsten …«
»Mann, Mann«, sagte Dimitri und stand schwerfällig auf.
»Ich muss wieder ins Bett. Oder mir was anziehen. Es ist scheißkalt.« Trotz seiner Ankündigung blieb er stehen. Offenbar überforderte ihn diese Entscheidung.
Ich blätterte weiter, überschlug Seiten. Weiter hinten stieß ich auf so etwas wie ein fortlaufendes Tagebuch des Projektes. Am elften Oktober hatte Hungerbühl notiert: Mist – der Nobelpreis geht ausgerechnet an eine unserer Forscherinnen! Kein gutes Timing. Aufmerksamkeit der Presse zu befürchten. Wir müssen die Versuchsreihen im Kinderheim unterbrechen, mindestens bis Jahresende. Kohlström wird sauer sein, nachdem wir gerade erst angefangen haben.
»Kohlström?«, stutzte ich. »Was für ein Kohlström?«
»Was?«, brummelte Dimitri, der sich mit starrem Blick auf eine seiner Ikonen geistesabwesend die Schultern rieb.
»Die machen schon irgendwelche Versuche an Kindern, und irgendjemand heißt in dem Zusammenhang so wie der Leiter des Waisenhauses, in dem ich aufgewachsen bin«, erklärte ich, während ich wieder zurückblätterte und hastig die Seiten nach mehr Informationen über dieses Kinderheim absuchte. Hungerbühl war doch ein Pedant, er hatte es todsicher irgendwo aufgeschrieben …
»Na, der wird es ja wohl kaum sein«, meinte Dimitri.
»Zutrauen würde ich es ihm jederzeit«, sagte ich. »Kohlström war genau der Typ dafür. Der hat damals so was sogar auf eigene Faust mit uns probiert; irgendwelche Pillen, die wir nehmen sollten, damit wir brav sind. Brav! Wie ich dieses Wort hasse.«
»Ich weiß. Das hast du schon mindestens hundert Mal erzählt«, seufzte Dimitri geduldig. »Aber so ein Zufall ist unmöglich.«
Ich hörte kaum hin. Ich beugte mich vor, rutschte vom Sessel auf die Knie, breitete die gedruckten Seiten vor mir auf dem Fußboden aus, fuhr die Textzeilen in der fremden Sprache hastig suchend mit den Fingern ab. Irgendwo musste es stehen. Hungerbühl hatte alles aufgeschrieben, über alles Buch geführt, jeden Gedanken und jedes Ereignis protokolliert.
»Gunnar … Du verrennst dich vielleicht. Kohlström ist kein so seltener Name.«
Ich hörte überhaupt nicht hin. Ein Waisenhaus war es, der Begriff fiel mehrmals. Aber welches? Wo?
»Also, ich zieh mir jetzt was an. Scheißkälte.«
Ich spürte das Blut in meinen Adern pochen. Mein Instinkt war wach geworden, hatte das Kommando übernommen, hatte allen Wodka aus meinem Körper verdampft und durch Adrenalin ersetzt. Hier. Ein Eintrag, fast ein Jahr alt. Interessanter Kontakt: Heute früh den Freund meiner Haushälterin kennen gelernt. Bewährungshelfer. Habe eher scherzhaft gesagt, da hätte er ja von Berufs wegen gute Kontakte zur Unterwelt. Seine Antwort: Ja, ob ich einen bestimmten Bedarf hätte? Schien es ernst zu meinen. Er heißt Per Fahlander und wohnt in Björkhagen.
»Dieser Hund«, stöhnte ich unwillkürlich. »Dieser verfluchte Hund …«
Konnte das wahr sein? Ich las es
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