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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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höchst dankbar, dass ich ihnen mit der Verletzung meiner Bewährungsauflagen einen hübsch vorzeigbaren Grund dafür geliefert hatte, und so rasch es die Verkehrslage zuließ.
    Mit anderen Worten: Wenn ich in den Graben fuhr, war Kristina tot.
    So etwas motiviert zu höchster Aufmerksamkeit.
    Irgendwann ging es nur noch im Schritttempo vorwärts. Die Scheibenwischer rackerten sich ab, flipp-flapp, flipp-flapp, das Gebläse der Heizung dröhnte auf vollen Touren, und ich spürte den Schnee unter den Reifen knirschen. Ich hielt das Lenkrad umklammert, blieb mit dem Blick auf der Straße, zählte die Leitpfosten, die vorbeiglitten, dachte nur an die nächsten zehn Meter.
    Ich war schlecht ausgestattet mit nichts als der Pistole in der Tasche, fiel mir ein. Was, wenn ich niemanden antraf, nur verschlossene Türen? Ein Brecheisen hätte ich brauchen können. So eines, mit dem man zur Not auch jemanden den Schädel einschlagen konnte.
    Bis Norrköping ging es noch einigermaßen. Dann musste ich von der Autobahn herunter auf die 22. Ich verpasste beinahe die Ausfahrt. Auf der Ausleitung kam ich für ein paar endlose Sekunden ins Schlingern, mein Puls stieg auf unglaubliche Werte, und danach wurde es nicht besser.
    Es war Wahnsinn. Ich war wahnsinnig, jetzt noch zu fahren. Die Straße war kaum mehr auszumachen, ein schmutziggraues Band vor einem schmutziggrauen Hintergrund. Nur die nächsten Meter überstehen, sagte ich mir, nur in der nächsten Kurve nicht ins Rutschen kommen. Ich war ein Seiltänzer auf einem vereisten Seil. Auf einem vereisten, dreihundertfünfzig Kilometer langen Seil. Und um mich herum tobte ein Sturm, geballte Fäuste aus Wind, die nach mir schlugen.
    Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso ausgerechnet heute? Die brennenden Augen starr geradeaus gerichtet, das Auto steuernd, das sich anfühlte, als habe ich Schmierseife unter mir, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass auch das Wetter Teil der Verschwörung war. Der Himmel, die Wolken und der Winter hatten sich zu meinen Feinden gesellt, hatten meinen Tod beschlossen, den Hans-Olofs und den Kristinas. Auf jeder Brücke, die ich auf meinem verzweifelten Weg nehmen musste, versuchten sie mit neuer Gewalt, den Schlussstrich zu ziehen.
    Auf einmal spürte ich, was ich seit Jahrzehnten nicht gefühlt, ja, was ich all die Jahre über völlig vergessen gehabt hatte: die Angst, die der ständige Begleiter meiner Kindheit gewesen war. Die wahnsinnige Angst. Angst vor den größeren Kindern, vor ihrem Spott, ihren Schlägen, ihren Gemeinheiten, vor allem aber Angst vor jenem großen, bärtigen Mann namens Rune Kohlström, dessen Launen, Wutausbrüche und Strafen einem völlig unvorhersehbaren Muster folgten. Du kehrst den Hof, den ganzen Hof, und ich will kein Widerwort hören! Egal ob man schnell ging oder langsam, ob man leise war oder laut, immer bestand die Gefahr, dass man zu langsam, zu schnell, zu leise oder zu laut war. Du putzt heute die Toiletten! Wir wollen mal sehen, ob dir das Herumschreien nicht vergeht! Bei jeder Mahlzeit hieß es schlingen, was hineinging, denn erstens gab es nie so viel, dass alle satt wurden, und zweitens wusste man nie, wann man wieder etwas bekommen würde. Unartige Jungs wie du haben am Tisch nichts verloren! Raus mit dir! Draußen vor dem Fenster kannst du zuschauen, und wehe, du rührst dich von der Stelle! Und natürlich konnte man auch in Verbüßung einer Strafe noch etwas falsch machen, eigentlich gerade dann. Dann setzte es Schläge, mit der flachen Hand, mit dem Ledergürtel, mit dem großen Lineal, mit allem, was greifbar war. Schläge, die wehtaten, weil sie nicht nur mit erbitterter, gemeiner Kraft ausgeführt wurden, sondern auch, weil sie so ungerecht waren.
    Ab und zu hatten uns die »Gesellschaftsdamen« besucht, fein gekleidete Frauen, die, wie man uns gesagt hatte, das Waisenhaus mit Geld unterstützten, und ich, zehn Jahre alt, war vor sie hingetreten und hatte entrüstet erzählt, dass der Hausvater mich verprügelte. Ich hatte mein Hemd hochgehoben und ihnen die blauen Striemen präsentiert, ehe sie etwas erwidern konnten.
    Damit hatte ich mir Rune Kohlström zum Todfeind gemacht. Nach diesem Tag hatten die wirklich gemeinen Strafen angefangen. Nackt in die Ecke! Alle sollen deine Schande sehen! Friss ihn leer, den Kübel, du verdienst nichts Besseres! Ich hatte nachts ohne Decke schlafen müssen, und keiner von den anderen hatte mir geholfen, mich zu sich schlüpfen lassen, keiner. Hätte ich nicht damals

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