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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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galt: Das habe ohne die geringsten tatsächlichen Veränderungen im Gesundheitszustand der Bevölkerung den Markt für blutdruckregulierende Mittel jeweils enorm vergrößert.
    Ziel müsse sein, die Konsumenten dazu zu bringen, nicht mehr von Medikamenten zu reden und sich Heilung zu erhoffen, sondern Pharmazeutika als Mittel einer gewohnheitsmäßigen chemischen Steuerung des Lebens zu begreifen, so alltäglich wie der Griff zu Nahrungsmitteln im Supermarkt oder das Auftanken des Autos.
    Nach einigen Absätzen Marketing-Blablas (so vermerkte er beispielsweise, dass es nicht genüge, die Beseitigung von Haarausfall oder Übergewicht in Aussicht zu stellen, da viele Menschen derlei nicht als gravierend empfänden; vielmehr müsse der Betroffene sich außerdem dem Druck seiner Umwelt ausgesetzt sehen, etwas dagegen zu tun) folgte eine Liste mit denkbaren neuen Pharmazeutika.
    Hungerbühls Lieblingsidee war ein Medikament, das, vor und während einer Schwangerschaft eingenommen, verhindern würde, dass das Kind später homosexuelle Neigungen entwickelte. Zielgruppe vor allem Männer hatte er in Klammern vermerkt, und Kernproblem Marketing: Homophobie ansprechen, ohne homosexuelle Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Er dachte eben an alles, der ehrgeizige Herr Hungerbühl. Auch daran: Machbarkeit im Moment fraglich. Medizinische Grundlagen unklar.
    »Ich glaube, du hast Recht«, knurrte ich missmutig. »Das hat tatsächlich nichts mit Kristinas Entführung zu tun.«
    Dimitri rieb sich gähnend die Oberarme. »Scheiße. Und kalt ist mir auch.« Er betastete den Heizkörper unter dem Fenster, spähte hinaus. »Ich glaube, es fängt an zu schneien. Richtig viel Schnee.«
    Nach einigen weiteren Ideen – etwa ein Mittel, das sexuelle Lust auslöste oder eines, mit dem man sein Schlafbedürfnis regeln konnte – kam Hungerbühl auf die Idee, dass die Vorstellung der chemischen Steuerung bereits in jungen Jahren in den Köpfen verankert werden müsse. Warum nicht ein Mittel speziell für Schüler entwickeln, mit dem diese sich vor Prüfungen in den optimalen Zustand versetzen konnten – entspannt, hellwach, konzentriert? Waren Wirkstoffe denkbar, die das Lernen, also das Verankern von Inhalten im Gedächtnis, erleichterten? Oder zwei Pillen eigens für frisch eingeschulte Kinder – eine, die den Bewegungsdrang dämpfte, sodass es keine Mühe machte, die Stunden im Klassenzimmer ruhig auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, und eine andere, die diesen Drang wieder weckte, damit die Kinder sich nachmittags richtig austobten.
    Den Notizen war richtiggehend anzumerken, wie Hungerbühl bei der Niederschrift dieser Vorstellungen auf die Idee für das Juvenile Aggressions Syndrom verfallen sein musste. Ich sah ihn förmlich vor mir: spätabends, ungestört in seinem Büro, das still, dunkel und verlassen lag, den Laptop vor sich, verbissen über den Fortgang seiner Karriere grübelnd. Und plötzlich – die Idee! Plausibel wirkend. Medizinisch machbar. Profitabel aussehend. »Das Wort Syndrom klingt nach wie vor beeindruckend in den Ohren des Normalbürgers«, hatte er notiert. Tatsächlich bestand sein Plan einfach darin, die Tatsache, dass Raufereien und Aggression seit jeher zum Alltag an Schulen gehörten, zum Krankheitssymptom umzudefinieren und anschließend Behandlungsmöglichkeiten dafür zu verkaufen.
    Im darauf folgenden Abschnitt führte er diese Überlegungen weiter aus und brachte sie in eine geordnete Form. Zuerst galt es, angesehene Mediziner dafür zu gewinnen, in Fachzeitschriften Artikel über die neu entdeckte Krankheit zu veröffentlichen – Texte, deren Inhalte mit Hungerbühl abzusprechen waren oder gleich von ihm kommen würden. Hungerbühls Zugehörigkeit zu einem konzerninternen »Lenkungskreis Forschung«, an der auch seine Versetzung nach Stockholm nichts geändert hatte, verschaffte ihm die Möglichkeit, ein Symposium zum Thema JAS zu veranstalten und dafür nahezu beliebig viel Geld auszugeben. Dort würden dann auch Soziologen zum Thema »Gewalt an Schulen« referieren, man würde außer handverlesenen Medizinern auch Journalisten aus allen wichtigen Industrieländern einladen, mit erlesenem Essen und schauerlichen Prognosen füttern und auf diese Weise eine globale JAS -Hysterie lostreten.
    Zu dem Zeitpunkt würde das vergleichsweise winzige Labor, das Rütlipharm in Schweden unterhielt und das unter Hungerbühls Leitung stand, bereits sowohl mit einem Testverfahren als auch mit einer Therapie aufwarten.

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