Der Nobelpreis
hätte.
Immerhin, der Anblick des Dokuments schien einige Gehirnzellen zum Leben zu erwecken.
»Was ist das für eine Sprache?«, wollte Dimitri wissen.
»Deutsch?«
»Ja«, sagte ich. »Das habe ich mir gedacht. Hungerbühl ist Schweizer; aus Basel.« Deutsch, das war gut. Deutsch ist dem Schwedischen angenehm verwandt. Selbst in meinem derzeitigen Zustand würde es mir keine Probleme machen, es zu lesen.
Die geheime Datei umfasste beinahe hundert Seiten. Dimitri druckte alles aus, was auf seinem Höllengerät von Drucker nur Minuten dauerte, und reichte mir dann den Stapel. Ich verzog mich auf den krümeligen Sessel und begann zu lesen.
Es war keine Sammlung schmutziger Witze. Es war die Planung eines schmutzigen Komplotts.
Reto Hungerbühl war offensichtlich ein sehr weit und sehr methodisch vorausdenkender Mensch. Das Dokument war in mehrere Abschnitte unterteilt, und der erste davon war der Entwicklung einer Art Anklageschrift gegen den Vorstandsvorsitzenden der Rütlipharm AG, Felix Herwiller, gewidmet. Eine seitenlange Liste zählte Verfehlungen auf, falsche Einschätzungen, verpasste Chancen und schlechte Entscheidungen und enthielt dazwischen immer wieder ausformulierte Sätze oder ganze Redepassagen. Das Ganze sah aus, als beabsichtige Hungerbühl eines schönen Tages aus diesem Material eine Rede zu destillieren, mit der er eine Aktionärsversammlung dazu bringen wollte, seinen Konkurrenten abzusetzen und ihn an dessen Stelle zu wählen.
Auf einem weiteren Blatt waren auch gleich die voraussichtlichen Termine dieser Aktionärsversammlungen aufgelistet, auf mehrere Jahre hinaus. Ein Datum war mit drei Ausrufezeichen versehen.
»Ich weiß, was das Passwort bedeutet«, sagte ich.
Dimitri hob nur auffordernd die Augenbrauen.
»Der oberste Boss einer Aktiengesellschaft, nach amerikanischem Sprachgebrauch der CEO, heißt auf Deutsch Vorstandsvorsitzender, was manche zu VV abkürzen.« Ich hob den Papierstapel leicht an. »Das Passwort vv-rütag07 besagt einfach, dass Reto Hungerbühl im Jahre 2007 Vorstandsvorsitzender der Rütlipharm AG werden möchte. Das ist der große Plan.«
Dimitri nickte müde. »Und was hat das mit deiner Nichte zu tun?«
»Bis jetzt nichts«, musste ich zugeben. Ich spürte meine Laune in sich zusammenfallen wie ein Ballon, in den jemand eine Nadel gestochen hatte. Gut möglich, dass mir dieses Dokument letztlich auch nicht mehr nützte, als es eine Sammlung schmutziger Witze getan hätte.
Der nächste Abschnitt beinhaltete den Plan, wie Hungerbühl seine Machtergreifung vorzubereiten gedachte. Vorwürfe gegen den gegenwärtigen Konzernchef zu sammeln war nur einer der Punkte auf der Aktionsliste. Ein anderer war, Verbündete in anderen Teilen des Unternehmens zu suchen. Die Namensliste möglicher Kandidaten war zwei Seiten lang, und die einzelnen Namen waren markiert, mit ein bis drei Pluszeichen – oder aber mit Fragezeichen.
Vor allem aber gedachte Reto Hungerbühl, dem Unternehmen einen großen, neuen, profitträchtigen Markt mitzubringen. Als Brautgabe sozusagen.
Genauer gesagt: Er hatte vor, diesen Markt zu erschaffen.
Denn die neu entdeckte Krankheit JAS, das Juvenile Aggressions Syndrom, war Reto Hungerbühls ureigene Erfindung.
Die Pharmaindustrie, räsonierte er in einer Notiz, säge durch die Entwicklung immer wirksamerer Medikamente und Therapien zusehends an dem Ast, auf dem sie sitze. Um auch in Zukunft wirtschaftlich überleben zu können, gelte es, aktiv daranzugehen, die Grenze zwischen gesund und nicht gesund zu verschieben. Man müsse ein allgemeines Bewusstsein dafür schaffen, dass viele Dinge, die man bisher als zum Leben gehörig ertragen hat – Haarausfall, Jetlag, nachlassende Potenz, Cellulitis, der Kater nach einer durchzechten Nacht, ja selbst schlechte Laune –, bereits heute therapierbar seien oder es in naher Zukunft sein würden.
Bisher ordneten sich Menschen in eine der drei folgenden Kategorien ein: momentan gesund, momentan krank oder dauerhaft krank. Tatsächlich aber sei Gesundheit eine Illusion. Durch die Verbreitung von ausreichend tief gehenden Untersuchungsmethoden und vor allem durch die strengere Definition von Grenzwerten lasse sich Gesundheit zu einem in der Praxis nicht erreichbaren Ideal umdefinieren, was umgekehrt alle Menschen therapiebedürftig und damit zu Kunden der Pharmaindustrie mache.
Als vorbildliches Beispiel vermerkte er die in zahlreichen Ländern erfolgte Neudefinition dessen, was als gesunder Blutdruck
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