Der Nobelpreis
Ungefähr in der Mitte stand das Rednerpult, und auf dem Balkon darüber, hinter einer blumengeschmückten Balustrade, drängte sich das Königlich Schwedische Philharmonische Orchester. »Möchtest du ein Bier?«
»Lieber nicht«, erwiderte ich.
Hans-Olof warf mir einen raschen Blick zu. »Ach so, du warst ja gestern Abend … Du scheinst es gut überstanden zu haben, wie es aussieht.«
Ich zuckte nur mit den Schultern.
Schlag halb fünf erklang der Trommelwirbel, der traditionell den Einzug der königlichen Familie begleitet. Alles im Saal stand auf. Sie betraten die Bühne durch einen Seiteneingang – König Carl XVI. Gustaf, Königin Silvia, Kronprinzessin Victoria, Prinzessin Lilian, Prinz Carl Philip und Prinzessin Madeleine. Als sie vor ihren ausladenden Stühlen angekommen waren, ging der Trommelwirbel nahtlos in die Nationalhymne über.
Nächster Programmpunkt war der Einzug der Nobelpreisträger. Sie betraten die Bühne von hinten durch den Mittelgang zwischen den beiden halbrunden Sitzgruppen, und sie wurden von zwei jungen Mädchen geleitet, die Schärpen in den Farben Schwedens trugen.
Die Kamera schien besonderen Gefallen an Sofía Hernández Cruz zu finden, der einzigen Frau unter den Laureaten. Sie trug ein atemberaubendes schwarzes Abendkleid und den Kopf so stolz erhoben, wie das nur eine Spanierin kann und wie sie es anscheinend niemals verlernt, egal wie lange sie im Ausland lebt, und sei es in der Schweiz.
Hans-Olof beugte sich ruckartig vor, griff sich eine Hand voll Erdnüsse. »Meinst du, sie ahnt, wem sie ihren Preis in Wirklichkeit verdankt?«
»Sie weiß es«, sagte ich.
»Wieso bist du dir da so sicher?«
»Weil ich es ihr gesagt habe.«
Hans-Olof hielt im Kauen inne, sah mich mit einem halb geöffneten Mund voller halb zerkauter Erdnüsse und mit einem ausgesprochen dümmlichen Blick an, schluckte dann hastig alles hinunter und fragte: »Wie bitte?«
»In Wirklichkeit war ich gestern Abend nicht saufen«, erklärte ich. »Ich war im Grand Hotel. Ich bin in ihre Suite eingebrochen, habe auf sie gewartet und ihr die ganze Geschichte erzählt. Jede verdammte kleine Einzelheit.«
Hotels sind ein ergiebiges Terrain für Wirtschaftsspione aller Art. Auch ich habe in den schallgedämmten Zimmerfluchten teurer Edelherbergen schon reichen Fang gemacht.
Das Prinzip ist simpel. Ein paar Tage vor Beginn einer größeren Fachtagung lässt man sich von dem Hotel, in dem sie stattfindet, als Putzkraft, Hilfshandwerker oder dergleichen anstellen. Wichtig ist, dass es sich um einen Job handelt, der mit Zutritt zu den Gastzimmern verbunden ist, sprich, dass man einen Generalschlüssel bekommt. Sobald die Tagung begonnen hat und all die wichtigen Manager im Konferenzsaal versammelt sind, filzt man im Zuge seiner Tätigkeit ihre Zimmer, durchwühlt ihre Schreibtische, sichtet ihre Unterlagen, knackt ihre Aktenkoffer, kopiert Daten von ihren tragbaren Computern und so weiter. Und wenn man kaum noch laufen kann vor Beute, meldet man sich krank und geht. Es dauert etliche Tage, bis der Hotelverwaltung auffällt, dass man nicht wieder von sich hören lässt. Und bis sie schließlich dahinterkommt, dass etwas mit den Personalunterlagen nicht stimmt, ist man längst über alle Berge.
Ein einziger solcher Vormittag kann ertragreicher sein als zwei Monate normaler Arbeit. Es spottet jeder Beschreibung, wie leichtsinnig hoch bezahlte Manager mit Daten, Unterlagen und Informationen umgehen, an denen Wohl und Wehe ihrer Firmen hängt. Höchstens einer von zehn Aktenkoffern, denen ich in Hotelzimmern begegnet bin, war überhaupt verschlossen. In vielen Fällen liegen vertrauliche Memoranden, sensible Vertragsentwürfe oder interne Kalkulationen offen herum, nicht selten über Bett und Stühle verstreut oder neben dem Klo aufgestapelt. Die Zimmersafes – die zu knacken man in der Tat keine Zeit hätte, von dem damit verbundenen Aufwand und Lärm ganz zu schweigen – werden so gut wie nie benutzt. Gerechterweise muss man hinzufügen, dass derartige Safes für Juwelen und Brieftaschen gedacht sind. Für die im Wirtschaftsleben schützenswerten Dinge erweisen sie sich meist als zu klein.
Tragbare Computer, Laptops, Notebooks und so weiter haben die potenziell zu erbeutenden Informationsmengen und damit den Spaß noch einmal vervielfacht. Zwar sind solche Rechner oft mit Sicherheitseinrichtungen verschiedenster Art ausgestattet – Passwortabfragen, Verschlüsselungen und so weiter-, aber kaum jemand
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