Der Nobelpreis
reagierte.
Ich beugte mich vor, zog die Tür des Schranks neben dem Waschbecken auf, warf einen Blick hinein. Das Zeitungspapier lag noch auf den Regalböden und darunter, unangetastet, das Geld. Ich konnte mir problemlos ein Hotel suchen, auch außerhalb Stockholms, falls heute wegen der Nobelfeier nichts mehr zu kriegen war; ich hatte schließlich ein Auto vor der Tür stehen …
Und dann? Ich warf wieder einen Blick auf das Päckchen, das da lag, braun, ordentlich verschnürt, harmlos wirkend.
Zum Teufel mit allem. Ich zückte mein Taschenmesser, trat an den Tisch und drehte das Ding zu mir her.
Es kam von Lena.
Ich musste die Augen schließen, den Kopf schütteln und noch einmal hinschauen. Da stand es, in ihrer kleinen, sorgfältigen Handschrift. Absender: Lena Novitzky. Ich hörte mich auflachen. Die Zeitschriften! Es ist bloß ein Karton voll, hatte sie gesagt. Wenn du mir deine Adresse gibst, schick ich ihn dir. Und ich hatte ihr die Adresse der Pension gegeben. Das hatte ich völlig vergessen gehabt.
Doch Lena hatte es nicht vergessen. Ich schämte mich, starrte auf das Packpapier, schalt mich einen Idioten. Hatte dieser Nachmittag noch nicht gereicht? Hatte es nicht gereicht, mich wochenlang von meinem Schwager an der Nase herumführen zu lassen? Nein, ich musste mich schon wieder austricksen, mir bei nächster Gelegenheit die nächste paranoide Theorie zurechtlegen …
Sich vorzustellen, dass ich um ein Haar einfach die Flucht ergriffen hätte! Und dann? Was hätte ich dann gemacht? Ich wäre in der nächsten Scheiße gelandet.
Ich Idiot, ich gottverdammter Idiot …
Und dann plötzlich, während ich mich verfluchte, war da wieder diese Angst, die ungeheure, vernichtende, seelenzermalmende Angst eines kleinen Jungen, der in einem lichtlosen Kellerloch sitzt und sich fürchtet, vor der Dunkelheit, vor den namenlosen Geräuschen darin, vor den spinnenzarten Berührungen irgendwelcher Tiere aus dem Nichts, die ihn aufschreien lassen vor Entsetzen. So viel Angst hat er, dass er vergisst, wie kalt ihm ist und was für einen Hunger er hat. Er sitzt nur da, die Arme um sich geschlungen, betet, dass die Zeit vergeht, und unter der Angst wächst eine Wut ohnegleichen auf alle und jeden. Niemandem kann er trauen, sagt er sich. Niemandem wird er je wieder trauen. Alle sind gegen ihn, die ganze Welt. Nur seine Schwester, die hält zu ihm, aber auch sie kann ihm jetzt nicht helfen in dieser Hölle, die kein Ende nimmt …
Ein erbärmlicher Laut ließ mich wieder zu mir kommen, doch ich brauchte einige Momente, ehe ich begriff, dass ich es war, der da schluchzte. Ich schlug die Hand vor den Mund, blieb so stehen, starrte aus dem Fenster in die gelblich schimmernde Nacht und versuchte, ruhig zu atmen. Es ist vorbei, sagte ich mir. Es ist Vergangenheit. Der Junge von damals existiert nicht mehr, so wenig, wie der Dämon von damals noch existiert. Ich dachte an Kohlström, der jetzt ein alter Mann war und sich eingestehen musste, sein Leben vertan zu haben. Ich tat gut daran, die Schwüre aus diesen furchtbaren Nächten, die ich all die Jahre eingehalten hatte, endlich zu brechen.
Aber, ja, auch wenn ich mir das sagte, ich spürte, wie mein Körper noch daran festhielt. In meinen Muskeln und Knochen saß die Angst ebenso unverändert wie das Misstrauen und die wilde Entschlossenheit, mich zu behaupten, um jeden Preis. Sofía Hernández Cruz hatte Recht: Das Bild, das wir uns von der Welt machen, beschränkt sich nicht auf das Gehirn. Wir denken mit unserem ganzen Körper.
Deshalb würde es lange Zeit dauern, mich von alldem wieder freizumachen. Ich würde die Schwüre des kleinen Gunnar wieder und wieder brechen müssen, und vielleicht würde ich sie nie ganz loswerden.
Ich sah hinab auf das Päckchen, nahm es in die Hände. Was sollte ich mit den Zeitschriften? Im Grunde konnte ich sie wegwerfen. Meine Laufbahn als Industriespion war zu Ende, ich durfte mir nichts mehr in dieser Richtung erlauben. Wenn das Geld aufgebraucht war, das ich noch besaß – was zum Glück eine Weile dauern würde –, würde ich mir einen richtigen Job suchen müssen. Bloß – was für einen Job? Ich hatte weder einen höheren Schulabschluss noch irgendeine reguläre Ausbildung vorzuweisen. Und der Gedanke, künftig als Lagerarbeiter oder Möbelpacker mein Dasein zu fristen, begeisterte mich nicht gerade.
Egal. Ich setzte mich mit dem Karton aufs Bett und schlitzte ihn auf, weil Lena bestimmt eine Karte oder so etwas beigelegt
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