Der Nobelpreis
haben würde.
Hatte sie auch. Eine Postkarte mit dem Bild eines Vogels, der in der offenen Tür eines Käfigs sitzt und argwöhnisch in den freien Himmel über sich späht. Flieg!, stand darüber. Lena hatte auf die Rückseite geschrieben: Ich wünsche dir alles Gute. Deine Lena.
Na ja. Meine Lena, das war sie ja nun bestimmt nicht mehr. Ich nahm die oberste Zeitschrift zur Hand. Das Titelbild verhieß eine ausführliche Reportage über neue Überwachungsmöglichkeiten mit Hilfe von Bilderkennungssoftware. Klang interessant. Ich schlug das Heft auf und begann zu lesen.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, waren anderthalb Stunden vergangen, und mein Magen fühlte sich an, als habe er beschlossen, sich nun selber zu verdauen. Ich schnappte einen der frisch gewaschenen Geldscheine und ging hinüber zu dem türkischen Imbiss, um mir etwas zu holen. Dort lief im Fernsehen – als Kontrastprogramm zu Döner Kebab und Pommes Frites – gerade die Berichterstattung vom Nobelbankett. Sofía Hernández Cruz war zu sehen, wie sie auf den neben ihr sitzenden Prinzen Carl Philip einredete. Der hörte ihr aufmerksam zu und wirkte dabei über alle Maßen verblüfft. Ich konnte nachvollziehen, wie es ihm ging. Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, als ich genauso ausgesehen haben musste.
Zurück in der Pension las ich weiter, erst am Tisch, während ich nebenher aß, dann auf dem Bett. Es war weit nach Mitternacht, als ich mit den Heften einigermaßen durch war. Ich legte mich mit der unheilvollen Einsicht schlafen, dass ich viel zu fasziniert war von der bizarren Welt der Wirtschaftsspionage, als dass ich davon würde lassen können. Ich war, sozusagen, verloren.
Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem Schlag. Ich setzte mich auf, sah mich um und fand alles widerlich. Das Zimmer stank nach Autoabgasen und Dönerbude, war kalt und laut, die Möbel gehörten allesamt auf den Müll und der Rest mit dem Flammenwerfer gereinigt. War ich eigentlich bescheuert, mir so eine Umgebung anzutun? Innerhalb einer Sekunde traf ich jede Menge weitreichender Entscheidungen: Ich würde mir umgehend eine Wohnung suchen. Und ich würde mich bei allen entschuldigen, denen ich seit meiner Entlassung aus dem Gefängnis auf die Nerven gegangen war, allen voran Birgitta. Außerdem musste sie erfahren, was in Wirklichkeit los war.
Donnerstags hatte Birgitta erst kurz nach drei Uhr Schluss, daran erinnerte ich mich noch von unserer ersten Begegnung. Gerade eine Woche war das jetzt her, kaum zu glauben. Ich sah auf die Uhr. Kurz nach neun. Gut, eines nach dem anderen.
Kurz nach zehn verließ ich das Haus mit einem beruhigenden Packen Geld in der Brusttasche. Um halb zwölf hatte ich eine Maklerin gefunden, die mir nicht suspekt war. Sie stellte mir mit tiefer Stimme Fragen zu meinen Vorstellungen und legte mir dann einige Angebote vor. Eines davon fiel mir auf Anhieb ins Auge: eine kleine Wohnung in der City mit Blick auf einen Park. Nicht groß, und alles andere als billig, aber die Fotos gefielen mir. Und sie war leer; ich konnte sofort einziehen. Da es angesichts meiner beruflichen Leidenschaften früher oder später doch darauf hinauslaufen würde, dass ich mein Leben in einer Strafanstalt beschloss, wollte ich mir die letzte Zeit in Freiheit so angenehm wie möglich gestalten.
Kurz vor eins standen wir in der Wohnung. Sie gefiel mir noch besser als auf den Fotos. Die hohe Miete, stellte sich heraus, rührte daher, dass ein Büro im Stockwerk darunter dazugehörte, das über eine eigene Treppe erreichbar war. Irgendwie war mir das auf dem Angebotsblatt entgangen.
»Nicht schlecht«, sagte ich. »Bloß weiß ich nicht, was ich mit dem Büro anfangen soll.«
Die Maklerin musterte mich verwundert. »Seltsam«, meinte sie. »Auf mich wirken Sie wie jemand, der eines braucht.«
»Ah ja?« Ich musste beinahe lachen. Wenn sie geahnt hätte … Ich durchschritt noch einmal das Wohnzimmer. Die Aussicht war wirklich umwerfend. Und die zentrale Lage würde mir gefallen, da war ich mir sicher.
»Ich denke, es ist kein Problem, das Büro unterzuvermieten«, sagte die Maklerin, in ihren Unterlagen blätternd. »Der Vertrag erlaubt es ausdrücklich, und kleine Büros in der City sind immer gesucht. Ich kann Ihnen dabei gern behilflich sein, wenn Sie wollen.« Da ich immer noch zögerlich wirkte, fuhr sie fort: »Oder möchten Sie lieber noch einmal drüber schlafen? Das wäre im Moment kein Problem, vor Weihnachten tut sich ohnehin
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