Der Nobelpreis
den Schaltern anstanden und eine große Wanduhr erst kurz nach drei viertel anzeigte. »Ja und? Das sind noch über zehn Minuten.«
»Das wird mit Mühe reichen, die Kunden zu bedienen, die noch warten.« Als sei es eine Frage von Leben und Tod, um Punkt drei die Schalter zu schließen.
»Hören Sie, wenn die Bank um drei Uhr schließt, können Sie doch nicht schon …«
»Tut mir Leid, ich habe meine Anweisungen«, fiel er mir ins Wort. Er verbarg mühsam ein höhnisches Grinsen, das verraten hätte, wie sehr er sie genoss, seine Anweisungen.
»Einer geht doch immer noch«, verlegte ich mich aufs Betteln. »Es ist wirklich sehr wichtig, dass ich heute noch …«
»Morgen früh um zehn wieder.« Er schüttelte den quadratischen Kopf. »Bitte gehen Sie jetzt.«
Es blieb mir nichts anderes übrig. Den Rückweg zum Hotel ging ich zu Fuß, trotz der Kälte – erstens, um das Geld für den Bus zu sparen, und zweitens, um meine Wut abzureagieren. Eisige Luft und strammes Marschieren bringen einen auf andere Gedanken, und ich brauchte andere Gedanken. Ich brauchte einen Plan. Ich richtete meine Wut auf Rütlipharm, und erste Umrisse einer möglichen Vorgehensweise begannen sich zu formen.
Ich hielt Ausschau nach einer Telefonzelle, was schwieriger war als erwartet. Es kam mir so vor, als hätte man alle Telefonzellen, die ich gekannt hatte, abmontiert, während ich im Gefängnis saß. Endlich fand ich doch eine, ließ mir von der Auskunft die Nummer der Zahnarztpraxis von Doktor Henrik Ubbesen geben, rief dort an und bat um einen Termin, möglichst für den nächsten Tag.
So kurzfristig, flötete die weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung, gebe man Termine nur bei akuten Notfällen. Ob ich denn Schmerzen hätte?
»Ich merke gerade, wie sie anfangen.« Ich gab mein bestes schicksalhaft-ergebenes Seufzen von mir. »Wissen Sie, es kommt immer alles zusammen. Übermorgen früh geht meine Maschine nach Brasilien, ich habe noch eine Million Sachen zu erledigen, und unter meiner Brücke fängt es wieder mal an zu rumoren. Ich kenne das schon, es ist wie verhext. Und natürlich ist der Zahnarzt, zu dem ich sonst gehe, im Urlaub.«
Wir einigten uns auf neunzehn Uhr. »Ihr Name?«
»Erik«, sagte ich aus einer Laune heraus. »Erik Lindeblad.«
Auf dem Rückweg begutachtete ich die Speisekarten diverser Restaurants, aber für ein – selbst bescheidenes – Mal reichte mein Geld bei weitem nicht mehr. Schließlich landete ich in der Wartehalle der Centralstationen und begnügte mich mit zwei schmalen Pizzastücken und einer Cola. Am Nebentisch flirtete ein rothaariges Mädchen in steifem Schulenglisch mit einem Typen, der lange Locken, aber auch eine beginnende Glatze am Hinterkopf hatte – was ich von meinem Tisch aus besser sah als sie – und der ihr Vater hätte sein können. Ich verstand nichts von dem, was er sagte, aber sie wurde immer wieder rot davon.
Ich wollte auch nicht wissen, was er sagte. Ich ließ meinen Blick durch die Halle unter dem grauen Tonnengewölbe schweifen. Undenkliche Zeiten, seit ich hier das letzte Mal gewesen war. Und dann entdeckte ich vor dem Springbrunnen aus rotbraunem Marmor ein Mädchen, das aussah wie Kristina.
Ich zuckte zusammen, wollte aufspringen, losrennen, aber sie war es nicht, konnte es nicht sein. Es war eine Kristina, wie ich sie in Erinnerung hatte: acht Jahre alt, das lange, blonde Haar glatt gekämmt und von einem bestickten Stirnband gehalten. Sie trug klobige Schuhe mit übertrieben dicken Sohlen, für Kinder eben, saß auf einer Wartebank und las in einem Buch.
Schmerzhaft wurde mir bewusst, dass ich die heutige Kristina gar nicht mehr kannte. Vierzehn Jahre war sie alt. Sie hätte mir auf der Straße begegnen können, und ich wäre ahnungslos an ihr vorbeigegangen.
Auf einmal schmeckte mir mein Essen nicht mehr. Ich ließ den Rest stehen und machte, dass ich zurück ins Hotel kam.
Inzwischen war die Lobby regelrecht bevölkert von Menschen in teurer Kleidung. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle ansahen und wußten, dass ich nicht hierher gehörte. Auf dem Weg zum Aufzug blieb es mir außerdem nicht erspart, festzustellen, dass die Nordpol-Bar kein Kunstwerk war. Hinter der Mauer aus Eis brannte Licht, und durch die Gucklöcher sah man Männer und Frauen an den Tischen aus Eis stehen, in silberglänzende, dick gefütterte Wintermäntel mit Pelzbesatz gehüllt, an farbigen Drinks in Trinkgefäßen aus roh behauenem Eis nippen und sich mit hysterisch
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