Der Nobelpreis
unter Platten mit Wurst, Schinken, Lachs und anderem Fisch und Käse aus aller Welt. Ein anderer bot Früchte an, Honig in sieben Varianten, Joghurt in zehn, Marmeladen in zweiundzwanzig. Mehrere Automaten brühten auf Knopfdruck frisch gemahlenen Kaffee, Espresso, Cappuccino oder was auch immer. Eine schwindelerregende Auswahl an Teesorten bot sich als Alternative an, ferner standen alle denkbaren Sorten von Fruchtsäften bereit, Milch, Kakao …
Kurzum: Es überwältigte mich. Vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich noch in der Schlange der Gefängniskantine gestanden, um wie jeden Morgen in den vergangenen sechs Jahren eine Tasse mit wässrigem Kaffee und einen verschrammten Hartplastikteller mit zwei Scheiben Graubrot, einem Stück Butter und einem Klecks Marmelade entgegenzunehmen. Meine Wahlmöglichkeiten hatten sich darauf beschränkt, das Ganze an einem der fest mit dem grau lackierten Betonboden verschraubten Resopaltische zu verzehren oder es bleiben zu lassen.
Und nun das.
Ich wanderte das Buffet entlang und konnte mich nicht entscheiden. Eine Tasse Kaffee, gut. Allein der Geruch bewirkte, dass ich völlig neben mir stand. Schließlich verfiel ich darauf, mit einem kleinen Schälchen Müsli anzufangen; ein paar Flocken, Nüsse, Rosinen und Milch darüber. Es war Ewigkeiten her, dass ich so etwas zuletzt gegessen hatte. Damals hatte Inga noch gelebt.
Ich suchte mir einen Platz abseits der anderen Gäste, eine Wand im Rücken, dicht an den Fenstern, vor denen langbahnige, rotweiße Vorhänge herabhingen und, im indirekten Licht erstrahlend, den Blick nach draußen versperrten. Aus gutem Grund, wie ich merkte, als ich durch die Lücken dazwischen spähte: Die Fenster gingen nur auf einen schmalen Durchgang zwischen dem Hotel und dem nächsten Gebäude, und alles, was man gesehen hätte, wäre eine Betonwand und eine Reihe unordentlicher Müllcontainer gewesen.
Während ich aß, beobachtete ich die anderen Leute, staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich in all diesem Luxus bewegten. Und mit dem Essen kam der Appetit, meldete sich ein übermächtiger Hunger, der alles, alles verschlingen wollte, was dort vorne unter Wärmelampen und auf gekühlten Platten lag. Ich kratzte meine Schüssel aus, kippte im Aufstehen den letzten Schluck Kaffee hinab und ging wieder ans Buffet. Den größten Teller, den ich finden konnte, belud ich mit allem, was mir unter die Augen kam, und als er bis zum Rand voll war, holte ich mir noch ein großes Glas frisch gepressten Orangensaftes und noch eine Tasse Kaffee und balancierte alles vorsichtig zurück zu meinem Platz.
Bloß – auf meinem Platz saß schon jemand.
Eine dicke, alte Frau mit weißen Haaren und kuhhaftem Blick. Ihr gegenüber ein dicker, alter Mann, der fast keine Haare mehr hatte, aber denselben Ausdruck in den Augen.
Ich blieb abrupt stehen, sah umher, versuchte mich zu orientieren. Wie das jetzt? Da hatte doch unübersehbar mein Geschirr gestanden. Wie kamen die beiden Alten dazu, sich einfach auf einem fremden Platz breit zu machen?
Ich sah mich um. Aber doch, genau da hatte ich gesessen. Kein Irrtum möglich.
Dann sah ich eine der Serviererinnen einen Tisch abräumen, den vorher eine größere Gruppe innegehabt hatte, und begriff. Es war ein versteckter Hinweis. Sie hatten es nicht erwarten können, mich wieder los zu sein, und deswegen mein Geschirr sofort abgeräumt, kaum dass ich aufgestanden war. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich unerwünscht war.
In den Tiefen meiner Eingeweide regte sich ein heißer, uralter Zorn. Ich verzichtete auf eine Konfrontation mit dem alten Paar – die konnten nichts dafür – und suchte mir einen anderen Platz, dichter am Buffet, unübersehbar für die Leute vom Hotel. Mit grimmiger Wut aß ich meinen Teller leer, schaufelte alles in mich hinein, kaute, biss und mahlte und wartete nur darauf, dass der Erste von ihnen hersah. Aber es sah keiner her. So beschäftigt waren sie alle, na klar. Genau wie früher, im Kinderheim – wie oft hatte ich da zur Strafe für irgendetwas Belangloses allein in der Ecke sitzen müssen. Die anderen hatten nicht mit mir reden, nicht einmal zu mir herschauen dürfen. Manche Dinge änderten sich anscheinend nie. Vielleicht gab es doch so etwas wie Karma.
Auf jeden Fall, beschloss ich, würde ich keine Stunde länger in diesem Hotel bleiben. Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl gehabt, und wie es aussah, musste ich wieder lernen, auf meine Gefühle zu
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