Der Nobelpreis
anmutender Lebhaftigkeit unterhalten.
Neben dem Zugang stand ein junger Hoteldiener, dem man ansah, dass er Besseres mit seiner Zeit anzufangen gewusst hätte, als zwei große Rollgarderoben zu bewachen, an denen noch jede Menge derselben Wintermäntel hingen, die die Besucher der Bar trugen. Für Hotelgäste, verhieß ein Schild, war der Eintritt in die Bar frei.
Dekadenz in Reinkultur. Ich war froh, als der Aufzug kam.
Oben schloss ich die Tür hinter mir ab und nahm erst einmal eine ausgiebige Dusche, so heiß wie möglich und so lange, wie ich es aushielt. Danach packte ich mich warm ins Bett und zog die Gummibänder von der Mappe.
Die Unterlagen aus dem Zeitungsarchiv waren, wie ich schon befürchtet hatte, wenig ergiebig. Die Rütlipharm AG mit Sitz in Basel und Niederlassungen in praktisch allen OECD-Staaten stellte sich auf dem Papier als grundsolide Firma dar. Vor einigen Jahren hatte man ein Beruhigungsmittel, das sogar die strengen Kontrollen der US-amerikanischen FDA anstandslos passiert hatte, wieder vom Markt genommen, nur weil in Laborversuchen unerwartete Nebenwirkungen aufgetreten waren. Einige Milliarden Entwicklungskosten hatten abgeschrieben werden müssen, und der Börsenkurs war für Monate in den Keller gegangen. Doch inzwischen war das Vergangenheit; Rütlipharm hatte die Krise überwunden und schien tatsächlich so gut dazustehen wie noch nie.
Falls dieser Eindruck nicht täuschte. Ich betrachtete das Muster der dunklen und erleuchteten Fenster auf der anderen Seite des Innenhofs. Zahlen in Geschäftsberichten täuschten oft. Gut möglich, dass die Finanzlage des Konzerns in Wirklichkeit seit diesem Flop so angespannt war, dass man sich keinen zweiten Fehlschlag leisten durfte, und dass man das nur mit buchhalterischen Tricks verheimlichte.
Ein interessantes Detail am Rande: Das Institut, an dem die Nobelpreisträgerin Professor Sofía Hernández Cruz seit Jahren arbeitete, hatte der Rütlipharm-Konzern angeblich erst vor einem Jahr aufgekauft. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Aufschlussreich war auch eine Kopie handschriftlicher Notizen. Darin war von Machtkämpfen die Rede, die in der Konzernzentrale vermutet wurden. Dass ein gewisser Reto Hungerbühl zum neuen Leiter der Niederlassung Schweden berufen worden war, galt als Manöver des Vorstandsvorsitzenden Felix Herwiller, um einen missliebigen Konkurrenten aus Basel zu entfernen und erst einmal ruhig zu stellen. Hungerbühl sei enorm ehrgeizig, hatte der unbekannte Rechercheur notiert und dreimal unterstrichen, mit dicken Ausrufezeichen dahinter. Er kam, was ungewöhnlich war, nicht aus der Medizin, sondern aus der Marketingbranche.
Reto Hungerbühl also hieß der Mann, dessen Büro ich demnächst durchsuchen würde.
Ich legte die Mappe beiseite und musste, zum ersten Mal seit langer, langer Zeit, an Lena denken.
Lena Olsson hatte sie geheißen, aber so hieß sie bestimmt nicht mehr. Fünfunddreißig musste sie inzwischen sein, kaum zu glauben. Und wieso musste ich ausgerechnet jetzt an sie denken?
Ich stand auf, um die Vorhänge zuzuziehen. Nackt am Fenster stehend, versuchte ich, das Zimmer auszumachen, in dem sich heute Mittag die Frau ausgezogen hatte, aber es gelang mir nicht. Und das war auch nicht der Auslöser meiner Gedanken an Lena, nein …
Die schwangere Frau im High Tech Building fiel mir ein. Das war es. Lena hatte unbedingt Kinder haben wollen, ich dagegen auf keinen Fall. Das war der Grundkonflikt unserer Beziehung gewesen, wenn man es denn eine Beziehung nennen wollte.
Lena hatte mich geliebt, ohne Zweifel, auf eine stille, hingebungsvolle Art – ich scheue mich, das Wort »ergeben« zu verwenden, obwohl es die Sache am besten beschreibt. Sie hatte akzeptiert, dass ich meine Geheimnisse hatte und haben musste, dass mein Beruf illegaler Natur war und dass sie nicht fragen durfte, wo ich gewesen war, wenn ich eine Nacht oder länger verschwunden blieb. Und ich muss zugeben, dass das durchaus nicht immer etwas mit meiner Arbeit zu tun gehabt hatte. Ich bin nicht gerade hässlich, und der Verlockung, die fremde Schlafzimmer auf mich ausübten, war manchmal schwerer zu widerstehen gewesen als dem Reiz fremder Büros.
Lena. Ich sah sie noch vor mir, wie sie mich das letzte Mal im Stockholms Fängelse besucht hatte. Wie sie auf der anderen Seite der Glasscheibe gesessen hatte, bleich, das Gesicht schmal, erfüllt von einem verhaltenen Leuchten, das nichts mit mir zu tun hatte. Sie hatte jemanden kennen gelernt. Ich
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