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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Hunger schmerzte. Durch Zufall verfiel ich von Anfang an auf das Material, das ich bis auf den heutigen Tag für am geeignetsten halte, um daraus Picks zu schmieden: Fahrradspeichen. Mit Hammer und Zange, Meißeln verschiedener Größe und einer altersschwachen Lötlampe fertigte ich mein erstes Pickset, das mir lange Jahre treue Dienste leistete.
    Ich habe die Kunst, Zylinderschlösser zu öffnen, also selbst erfunden. Dass andere diese Fertigkeit vor mir entwickelt hatten, entdeckte ich erst viel später, zu einem Zeitpunkt, als es nur noch wenig gab, das mir jemand hätte beibringen können.
    Das Grundprinzip des Zylinderschlosses ist simpel: Der Schließzylinder, also der runde Kern in der Mitte, weist eine Anzahl von Bohrungen auf, die zu Bohrungen in dem ihn umgebenden Gehäuse passen. In diesen Kanälen befinden sich passgenaue Stifte, die von Federn hinabgedrückt werden, und jeder dieser Stifte ist an einer bestimmten Stelle durchtrennt. Wird der richtige Schlüssel ins Schloss geschoben, hebt er alle Stifte genau so weit an, dass ihre Trennstellen exakt entlang des Umfangs des Schließzylinders liegen, und dadurch lässt sich dieser drehen.
    Der springende Punkt ist, dass man einem Zylinderschloss von außen nicht ansieht, welcher Stift wo geteilt ist und wie hoch man ihn anheben müsste. Es gelang mir zwar relativ rasch, die erste Hürde jedes Schlosses zu nehmen – das Profil des Schlüssels quer zur Längsachse, das eine Vorauswahl trifft, welche Schlüssel sich überhaupt in das Schloss hineinschieben lassen, unabhängig davon, ob sie es öffnen können oder nicht – und mit Hilfe eines geeignet gebogenen Drahtes die Stifte anzuheben, aber das Schloss zu öffnen gelang mir nur, wenn ich den Draht anhand der Schlüsselkontur formte, den Schlüssel also kannte. Kannte ich den Schlüssel nicht, war es ein Ding der Unmöglichkeit, das Schloss durch bloßes Ausprobieren zu knacken, dazu gab es einfach zu viele mögliche Kombinationen.
    Daran verzweifelte ich, bis ich eines Tages – ich glaube mich zu erinnern, dass es der Tag vor Weihnachten war – entdeckte, dass sich die Situation völlig verändert, wenn man von Anfang an eine drehende Kraft auf den Schließzylinder ausübt. Sobald man das tut, spielen einem drei Dinge in die Hände: Die Gesetzmäßigkeiten der Geometrie von Kreis und Zylinder, die natürliche Elastizität von Metallen sowie die Tatsache, dass jedes Schloss innerhalb bestimmter Toleranzen zwangsläufig winzige Fertigungsfehler aufweist.
    Die Bohrung ist, geometrisch betrachtet, ein Zylinder, der einen anderen, nämlich den Schließzylinder, im rechten Winkel schneidet. Die Kreisgeometrie gebietet, dass es eine Übergangszone gibt, innerhalb deren der geteilte Stift das Schloss freigibt, selbst wenn die Teilung nicht hundertprozentig exakt sitzt. Dieser Umstand bewirkt, dass, versucht man den Schließzylinder eines ungeöffneten Schlosses mit der richtigen Kraft zu drehen, die Stifte in den Bohrungen leicht verkanten. Die richtige Spannkraft ist diejenige, die die Stifte zwar verkantet, es aber trotzdem noch erlaubt, sie mit einem geeigneten Werkzeug, einem so genannten Pick, hochzuschieben.
    Aufgrund von Fertigungstoleranzen weicht ein wirkliches Schloss unweigerlich vom theoretischen Ideal ab. Auch wenn man mit bloßem Auge nichts sieht, sind die Bohrungen doch nie exakt auf einer Linie. Das heißt, dass die Stifte unterschiedlich stark verkanten und einem auf diese Weise jedes Schloss sozusagen eine Art natürlicher Reihenfolge anbietet, in der die Zuhaltungsstifte anzuheben sind.
    Und schließlich sind alle Metalle elastisch. Wenn man das erwähnt, stutzen die meisten. Tatsächlich sind Metalle zwar nicht weich, aber elastischer als zum Beispiel Gummi: Lässt man je eine Kugel aus Stahl und eine aus Gummi von demselben Gewicht auf eine harte Unterlage fallen, hüpft die Stahlkugel deutlich höher als die Gummikugel. Dieser Elastizität ist es zu verdanken, dass jedes Mal, wenn man einen Stift mit einem geeigneten Werkzeug so weit hochgeschoben hat, dass die Trennungslinie die Grenze zwischen Schließzylinder und Gehäuse erreicht, man einen feinen, aber mit entsprechendem Fingerspitzengefühl deutlich tastbaren Ruck verspürt. Dieser rührt daher, dass sich Kernteil und Gehäuseteil des Stiftes voneinander getrennt haben. Und das Wichtigste: Wenn man die Scherspannung beibehält, bleiben sie es.
    Mit anderen Worten: Auf diese Weise ist es nicht erforderlich, alle Stifte

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