Der Nobelpreis
üben.
Ich fingerte über die Schreibtische, zog Schubladen heraus, fächerte Karteikarten auf, blätterte durch Akten und Unterlagen. Doktor Ubbesen war ein ordentlicher Mensch. Es gab eigene Hängeregister für Tankquittungen, Rechnungen für Büromaterial und Restaurantbelege. In der untersten Schublade verwahrte er ein Hemd, sorgsam zusammengelegt, in einer Tüte der Reinigung in der Sergelgatan. Daneben fanden sich zwei schauerliche Krawatten, eine Reservebrille und Unmengen von Visitenkarten.
Ich blätterte neugierig in den Patientenakten, gab es aber bald auf, weil ich zu wenig von den Notationsgewohnheiten der Zahnheilkunde verstand, um mit Kürzeln wie B4, GKr oder fem+6m etwas anfangen zu können.
Ein paar schmale Schränke im Vorraum, versehen mit noch lächerlicheren Schlössern als die Eingangstür, weckten mein Interesse. Es waren aber, wie sich herausstellte, nur die Spinde der Sprechstundenhelferinnen. Die erste schien eingetrocknete Kondensmilchdosen zu sammeln, jedenfalls hatte sie ein ganzes Arsenal davon in einem ihrer Fächer stehen. Die zweite verwahrte ein komplettes Kostüm für festliche Anlässe im Schrank, sorgsam in Plastikfolie verpackt, komplett mit hochhackigen Schuhen, Make-up-Täschchen und rasanter spitzenbesetzter Unterwäsche. Was wohl der Grund dafür sein mochte? Auf der Innenseite des dritten Schranks klebten Fotos von Babys; von lauter verschiedenen, wie es aussah. Nun ja.
In jedem Raum hingen weiße Kittel an Haken, jede Menge davon. Ich filzte die Taschen – Menschen pflegen oft aktuell wichtige Dinge mit sich herumzutragen, und für einen Eindringling ist es bisweilen aufschlussreich zu sehen, welche Dinge aktuell wichtig sind –, doch sie waren leer. Keine Schlüssel, keine Notizzettel, nichts.
Zurück ans Fenster. Atmen. Zeit vorübergehen lassen.
Mein Herz donnerte.
Ich würde dort hinaufgehen und das Unterste zuoberst kehren, ohne Rücksicht auf Verluste. Rütlipharm steckte hinter Kristinas Entführung, das stand außer Diskussion. Die Frage war nur, wie sie es organisiert hatten. Ich hatte wohlweislich Hans-Olof gegenüber keine Bedenken durchblicken lassen, aber dass der Chef der Entführer nur Englisch sprach, und ein gebrochenes noch dazu, gefiel mir ganz und gar nicht. Die entsprechenden Kontakte und genügend Geld vorausgesetzt, kann man heutzutage problemlos Halunken mieten, die international operieren und vor keiner Untat zurückschrecken. Wenn wir Pech hatten, wurde die Aktion von der Konzernzentrale aus gesteuert, und dann wusste die Niederlassung hier von gar nichts.
Aber irgendwo musste ich schließlich anfangen. Und es eilte, wie es noch nie geeilt hatte.
Da. Im Spiegelbild auf der Glasfront des benachbarten Hochhauses sah ich, wie das Licht im Eckbüro über mir ausging. Ich lauschte, mit weit geöffnetem Mund, um lautlos zu atmen. Die Schritte mehrerer Männer, die schräg über meinen Kopf hinweg gingen. Der Zahnarzt hatte Recht gehabt, es war wirklich ein sehr hellhöriges Gebäude. Man hörte eine Aufzugskabine heraufkommen. Ein gedämpftes Fing, ein Surren abwärts, dann war es plötzlich, als träte jetzt erst wirkliche Stille ein. Das Knacken der Außenverkleidung hatte aufgehört. Die Heizung gurgelte nicht mehr, war wahrscheinlich auf Nachtbetrieb übergegangen. Es würde kalt werden, bis ich fertig war.
Ich nahm meine Jacke von dem Haken, an den ich sie beim Hereinkommen gehängt hatte. Es war eine Wendejacke. Als ich das Gebäude betreten hatte, hatte ich sie mit der auffallend bunten Seite nach außen getragen. Im Aufzug hatte ich sie gewendet und war im achten Stock in dezentes Hellbeige gekleidet ausgestiegen. Obwohl die Jacke mächtig bauschte und einen warm hielt, bestand sie aus einem dieser hochmodernen Materialien – High Tech eben, passend zum Tatort –, das man mühelos so weit zusammendrücken konnte, dass sie sich in einer ihrer eigenen Taschen unterbringen und mittels eines Spanngurts um die Hüfte tragen ließ. Ich kontrollierte mein Werkzeugset. Alles da, auch die Taschenlampe. Sie verfügte über eine Halterung, um sie an der Brust zu befestigen und so eng begrenzte Helligkeit und trotzdem zwei freie Hände zu haben.
Ein Blick zur Uhr. Mitternacht vorüber.
Ich hörte den Glockenton des Aufzugs, langsame, schwere Schritte auf dem Gang. Der Wachmann. Ich glitt mit angehaltenem Atem neben einen der Schränke, bereit, mich darin zu verstecken – nicht besonders originell, ich weiß, aber ausreichend, falls er
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