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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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ebenso meine leidende Miene und der erschöpfte Gang. Ich warf einen kurzen Blick auf die Übersichtstafel an der Wand gegenüber den Aufzügen und wandte mich dann nach rechts.
    Die drei Praxen auf diesem Stockwerk hatten ihre Warteräume in die Flure verlagert. Rechts und links des Eingangs gab es Stühle, Zeitschriften und Licht, das zu schlecht war, um gut lesen zu können. Um diese Uhrzeit war kaum noch etwas los. Vor der gynäkologischen Praxis wartete eine hochschwangere Frau, vor der Tür des Neurologen ein stumpf vor sich hin blickender Mann und vor der Zahnarztpraxis ein nervöser Junge.
    Ich setzte mich auf einen Stuhl, der etwas abseits stand, als sei das hier meine tägliche Routine, und blätterte ohne zu lesen in einer Gesundheitszeitschrift. Die Luft roch abgestanden, nach Schweiß, Angst und Langeweile. Man hörte die Aufzüge in ihren Schächten auf und ab surren, und alle paar Minuten erklang in den benachbarten Etagen der Glockenton, der anzeigte, dass ein Aufzug ankam, und der einem schon nach kurzer Zeit auf die Nerven ging.
    Die Schwangere hielt sich den dicken Bauch, starrte die kahlen Wände an und verzog immer wieder das Gesicht, als trüge sie kein werdendes Kind aus, sondern ein Krokodil, das sie von innen her auffraß. Als sie merkte, dass ich sie beobachtete, erklärte sie: »Kein Sex der Welt ist das wert, was ich mitmache, glauben Sie mir. Absolut keiner.« Es klang, als müsse sie sich rechtfertigen.
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, brachte nur ein schiefes Lächeln und ein Kopfnicken zustande, und zum Glück wurde sie in diesem Moment aufgerufen. Offenbar war meine Fähigkeit, Leute unauffällig zu beobachten, in den Jahren im Gefängnis merklich eingerostet.
    Der nervöse Junge kam an die Reihe. Die Sprechstundenhilfe, die ihn hereingerufen hatte, sah sich stirnrunzelnd auf dem Gang um. Nicht schwer zu erraten, dass sie nach Herrn Lindeblad Ausschau hielt.
    Der dumpf dreinblickende Mann wartete, wie sich herausstellte, auf eine ältere, grauhaarige Frau, die mit einem Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen, herauskam. Er stand wortlos auf, nahm sie am Arm, und sie gingen. Kurz darauf kamen zwei junge Frauen aus der Tür des Zahnarztes, die Sprechstundenhilfen vermutlich. Noch während sie auf den Aufzug warteten, beendete auch das kaum ältere, größtenteils männliche Personal der neurologischen Praxis die Arbeit, und man fuhr unter Gelächter und anzüglichen Bemerkungen gemeinsam hinab.
    Der Gynäkologe, ein behäbiger Mann mit einem Eskimogesicht, kam zusammen mit seiner letzten Patientin heraus und schüttelte ihr zum Abschied die Hand. Nachdem sie bittersüß lächelnd im Aufzug verschwunden war, ging er daran, die Lichter hinter sich auszuschalten und die Tür abzuschließen.
    Als er mich bemerkte, stutzte er. »Sie wollten aber nicht zu mir, oder?« Einen Moment schien er die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen, eine Patientin in seinen Untersuchungsräumen vergessen zu haben.
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein, meine Frau ist da drüben«, gab ich mit entschuldigendem Lächeln und einem Kopfnicken in Richtung auf die Zahnarztpraxis zurück. »Sie haben bloß die besseren Zeitschriften.«
    »Ach so.« Er wirkte erleichtert und schien meine Anwesenheit im nächsten Moment vergessen zu haben. Gedankenverloren schlüpfte er in einen abgetragenen Wintermantel, schob die Schlüssel ein, ging leise summend zu den Aufzügen und entschwand, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.
    Nun glomm nur noch unter der Tür zur Praxis von Doktor Ubbesen Licht. Ich schob die Hand in die Tasche und ließ meine Finger erwartungsvoll über das Leder meiner Werkzeugtasche streichen. So musste sich ein Pianist fühlen, der nach Jahren zum ersten Mal wieder an ein Klavier darf: brennend vor Sehnsucht, zu spielen – und zugleich besorgt, es vielleicht nicht mehr zu können.
    Fünfzehn Minuten später kam er aus der Tür. Er sah mir fast ein bisschen ähnlich, der Zahnarzt Doktor Henrik Ubbesen. Dieselbe Statur – hoch gewachsen, etwas zu mager –, dasselbe dunkelblonde Haar. Nur trug er eine dicke Brille.
    Er hielt inne, als er mich bemerkte. »Sie sind nicht zufällig Erik Lindeblad?«, fragte er, mit dem Schlüssel vor dem Schloss verharrend.
    Ich schüttelte den Kopf und sagte wahrheitsgemäß: »Nein.«
    »Eigenartig«, murmelte er, zögerte mit dem Abschließen. »Das war ein neuer Patient, deswegen frage ich. Normalerweise kenne ich meine Patienten natürlich. Dieser

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