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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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gleichzeitig in die richtige Position zu bringen. Man kann es nacheinander tun. Und sobald der letzte Stift richtig sitzt, lässt sich das Schloss öffnen, ohne dass man ihm hinterher etwas ansieht.
    Das ist das Grundprinzip. Es klingt einfach, doch man braucht die Ausdauer eines überdrehten Jugendlichen, um das dazu nötige Fingerspitzengefühl zu entwickeln. Ich war damals dreizehn und besessen von dem Ziel, meinen mechanischen Erzfeind ein für alle Mal niederzuringen. Ich übte, bis mir die Finger bluteten. Ich träumte wochenlang von sich bewegenden Stiften und Zylindern. Inga musste mich immer öfter zum Essen zwingen, und vielleicht war es dieses Fieber, in das ich mich hineinsteigerte, das sie zu der Entscheidung veranlasste, dass wir nach Stockholm gehen und versuchen würden, uns in der Stadt durchzuschlagen.
    Aber als wir gingen, gingen wir durch die Vordertür, und ich schloss hinter uns ab. In unserer Zeit in der Stadt habe ich keine einzige Fensterscheibe mehr einschlagen müssen. Ich hatte das Sesam-öffne-dich gefunden. Man schrieb die frühen Achtziger, und keine Tür war mir verschlossen. Meine Laufbahn als Einbrecher war vorgezeichnet.
    Und wie schon erwähnt, unsere moderne vollelektronische Zeit ist auf meiner Seite. Konventionelle mechanische Schließanlagen sind heutzutage kein lohnendes Geschäft mehr. Selbst hochwertigste Schlösser taugen immer weniger. Und das Schloss an der Tür zur Praxis von Doktor Henrik Ubbesen war alles andere als hochwertig. Ich brauchte nicht einmal hinzusehen. Spannen, harken, und fünf Sekunden später war es auf.
     
    Eine gute Aussicht hatte man von hier oben. In meiner Rolle als verärgerter Pizzabote heute nachmittag hatte ich sie kaum angemessen würdigen können, aber jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, aus einem gleichfalls dunklen Büro heraus, war der Anblick der in orangerotes und gelbes Licht getauchten Stadt überwältigend.
    Ich habe oft Momente wie diesen erlebt. Die Phase, bevor es ernst wird. Stunden, die man in einem Versteck zubringen muss, ehe man es wagen kann, wieder zum Vorschein zu kommen. Ich habe schon zusammengekauert in Aktenschränken gehockt, auf Klobrillen balanciert, mich in stickigen Heizungsräumen versteckt gehalten oder reglos unter Schmutzwäsche in einem Rollwagen ausgeharrt. In dieser Phase gilt es, Ruhe zu bewahren, die Zeit teilnahmslos vorüberstreichen zu lassen und bereit zu werden für den Augenblick des Handelns.
    Ich stand reglos, atmete durch den halb geöffneten Mund. Die Ruhe bewahren, darum ging es. Ich ließ die Augenlider sinken, lauschte in die Stille. Die Heizkörper rauschten leise, einer machte ein tröpfelndes Geräusch. Und dieses Knacken, woher kam das? Ich öffnete die Augen wieder, sah mich um, bis mir klar wurde, dass es die Außenverkleidung des Hochhauses sein musste, die sich in der anziehenden Kälte der Nacht verformte.
    Fünf weitgehend gleich gebaute Hochhäuser erhoben sich zwischen der Sergelgatan und Sveavägen. Das Gebäude, in dem ich mich befand, spiegelte sich in dem Mosaik der dunklen Scheiben des Nachbargebäudes. So konnte ich erkennen, dass im Stockwerk über mir noch Licht brannte.
    Ich drehte mich um und schritt bedächtig die dunklen Räume der Praxis ab. Eine gute Übung. Als ich hereingekommen war, hatte es durchdringend nach Desinfektionsmitteln gerochen; die Art von chemischem Geruch, die man unauslöschlich mit Zahnarztpraxen verbindet und die einem binnen Sekundenbruchteilen all die schrecklichen Stunden wieder ins Gedächtnis ruft, die man unter dem Bohrer zugebracht hat. Doch man gewöhnte sich daran. Ich war mir sicher, dass sich an dem Geruch nichts geändert hatte, trotzdem nahm ich ihn nicht mehr wahr.
    In jedem Raum hing eine Uhr an der Wand, schön groß und mit dicken Zeigern, die auch in dem herrschenden Halbdunkel gut ablesbar waren. Ich musste mich zwingen, nicht jede Sekunde hinzusehen. Die Zeit verging langsam, und das zerrte an den Nerven.
    Ruhe? Es war illusorisch, Ruhe finden zu wollen. Das hier war kein normaler Auftrag wie in den guten alten Zeiten. Hier ging es um Leben und Tod. Wenn ich heute Nacht auf eine Spur stieß, die Rütlipharm mit der Entführung meiner Nichte verband, würden über kurz oder lang Menschen sterben. Und Kristina leben. Und was mit mir selber geschehen würde, musste sich erst noch zeigen.
    Ich holte meine dünnen Lederhandschuhe hervor und zog sie mit bedächtiger Sorgfalt an. Es konnte nichts schaden, schon ein wenig zu

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