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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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machte es furchtbar wichtig, hatte wohl eine Geschäftsreise vor sich oder so etwas, und meine Sekretärin hat ihm extra noch den Abendtermin gegeben. Und nun ist er gar nicht gekommen.«
    »Manche Menschen sind wirklich rücksichtslos«, pflichtete ich ihm bei.
    Der Zahnarzt nickte. »Na ja, aber länger warte ich nicht mehr. Neunzehn Uhr war der Termin, und jetzt ist fast acht.« Er schob den Schlüssel ins Schloss.
    »Mehr kann man wirklich nicht verlangen«, bekräftigte ich, damit er ihn endlich auch herumdrehte.
    Aber nein, er zog ihn wieder heraus, um sich damit am Kinn zu kratzen. »Wissen Sie, manche Leute überlegen es sich vor der Tür zur Praxis noch einmal anders. Aber ob das gut ist, ist sehr die Frage. Wunderheilungen sind in unserem Metier eher selten.« Endlich, der Schlüssel zurück im Schloss. »Sie warten noch auf Ihre Frau?«
    Ich nickte. »Auch der letzte Termin.«
    »Seltsam«, meinte der Zahnarzt, während er zuschloss, einmal, zweimal. Er deutete auf die Tür zur Praxis des Gynäkologen. »Ich dachte, ich hätte ihn abschließen hören. Es ist ein schrecklich hellhöriges Gebäude, wissen Sie? Man hört die Leute in den Räumen nebenan beinahe denken.«
    »Er hat noch mal aufgeschlossen«, erwiderte ich kaltblütig.
    »Wir waren ein bisschen spät dran. Kinder im Mutterleib haben einfach noch keinen Sinn für Termine.«
    Zahnarzt Doktor Henrik Ubbesen lachte trocken auf und schob den Schlüssel ein. »Ja, da haben Sie wohl Recht. Na, alles Gute jedenfalls«, meinte er, winkte mir linkisch zu und ging zu den Aufzügen. Dort stand er, versunken in die Betrachtung der Liftanzeigen, bis es schließlich Ping! machte und einer der Fahrstühle ihn aufnahm.
    Das Signal über der Fahrstuhltür erlosch, und ich hatte das achte Stockwerk des High Tech Building endlich, endlich für mich alleine.
    Lange Zeit meines Lebens ist das Zylinderschloss mein Feind gewesen, mein unbesiegbarer Gegner. Wenn ich zur Strafe im dunklen Keller des Waisenhauses eingesperrt wurde – und das wurde ich oft –, war es das Zylinderschloss an der Tür, das mich daran hinderte zu entkommen. Hielt ich es nachts vor Hunger nicht mehr aus und schlich zur Speisekammer, vereitelte ein anderes Zylinderschloss, dass ich mir den Bauch vollschlagen konnte. Ich besaß einen Haken, mit dem ich einfache Schlösser öffnete und schloss, die Spinde der anderen etwa oder die Schubladen in der Küche, in denen man manchmal auch etwas zu essen fand. Aber an Zylinderschlössern biss ich mir die Zähne aus.
    In der Nacht, als Inga und ich flohen, um nie wiederzukommen, stand uns ebenfalls ein Zylinderschloss im Weg, an der Haustüre. Aber da hatte ich mir schon ein Stemmeisen verschafft, das es mir ermöglichte, seine Macht mit Gewalt zu brechen.
    Doch das befriedigte mich nicht. In dem kleinen, einsam im tiefsten Wald von Småland gelegenen Ferienhaus, in dem Inga und ich den herrlichsten Sommer und den bittersten Winter unseres Lebens verbrachten, fand sich auch eine kleine, gut ausgestattete Werkstatt, in der ich mich daranmachte, das Geheimnis des Zylinderschlosses zu enträtseln.
    In das Haus waren wir durch ein schlecht gesichertes Fenster eingedrungen, und Inga hatte darauf bestanden, die abgeschlossene Vordertür unbeschädigt zu lassen. Schlüssel dazu fanden sich aber nirgends, sodass wir immer das Fenster benutzen mussten, wenn wir hinaus-oder hereinwollten. Lästig.
    Ich begann damit, dass ich auf meinen Raubzügen durch andere Sommerhäuser nicht nur Lebensmittel stahl, sondern auch sämtliche Zylinderschlösser, deren ich habhaft wurde. In mühsamer Kleinarbeit sägte ich sie in der Werkstatt auseinander, starrte sie stundenlang an und versuchte, hinter das Geheimnis ihrer Funktionsweise zu kommen – und herauszufinden, wie man sie ohne Schlüssel öffnen konnte. Ich erfand zuerst Methoden, die nur das Schloss zerstörten, die Tür aber intakt ließen. Dann, als ich begriff, was die Kerben eines Schlüssels mit den Zuhaltungen im Zylinder anstellten, fertigte ich mir die ersten Werkzeuge – aus einfachem Draht zunächst, der sich jedoch als zu weich erwies, später aus den stählernen Borsten eines Straßenbesens, was Werkzeuge ergab, mit denen es mir zum ersten Mal glückte, ein im Schraubstock festgespanntes Zylinderschloss zu öffnen.
    Ich verfeinerte meine Kunst in den dunklen Monaten eines Winters, in dem meine Finger klamm wurden, mein Atem weiße Wolken machte, die lange über der Werkbank schwebten, und mein Magen vor

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