Der Nobelpreis
unabdingbaren handwerklichen Fertigkeiten, ist allerdings in Ermangelung geeigneter Übungsmöglichkeiten im Zivilleben so gut wie nicht auf eigene Faust zu erlernen. Ich habe die Grundprinzipien während meines ersten, damals noch recht kurzen Gefängnisaufenthaltes von einem Zellengenossen eingehend erklärt bekommen. Nach meiner Entlassung bin ich eine Woche lang jede Nacht bei demselben kleinen Gebrauchtwagenhändler eingebrochen, bis ich seinen Tresor endlich aufbekam. Ich habe nicht eine einzige Öre mitgehen lassen; es war nur zu Studienzwecken gedacht gewesen.
Hier hatte ich es mit einem Schweizer Modell zu tun. In der Schweiz werden nicht nur berühmte Uhren hergestellt, auch was Panzerschränke anbelangt, macht diesem wehrhaften Bergvolk so schnell keiner etwas vor. Hinzu kommt, dass Panzerschränke zu öffnen wirklich schwierig ist. Anders als bei Zylinderschlössern beißt man sich an manchen Safes die Zähne aus. Und das hier war so ein Kandidat.
Der Tresor, den ich vor mir sah, war ein WA-60 Forte EN3, ein Produkt der Waldis Tresore GmbH in Rümlang, deren Kleintresore zu den widerstandsfähigsten der Welt gehören. Das Kürzel EN 3 steht für die Widerstandsklasse nach europäischen Normen, die die älteren und mir vertrauteren Klassifizierungen nach VDMA oder VDS abzulösen im Begriff war: Zumindest für Tresore dieser Größe war das die zweithöchste Güteklasse.
Mit anderen Worten: Er hatte wirklich etwas zu verbergen, der Herr Doktor Reto Hungerbühl.
Aber es muss nicht immer das Innere eines Safes sein, das die entscheidenden Geheimnisse enthält. Terminplaner etwa, Agenden, Telefonnotizen und bekritzelte Schreibtischunterlagen aus Papier sind oft wahre Fundgruben, was Namen, Telefonnummern oder Stichworte angeht. Ich hatte auch schon tolle Sachen in Computern aufgestöbert, und soweit ich die Entwicklung in dieser Richtung hatte verfolgen können, waren meine diesbezüglichen Aussichten in den letzten Jahren eher gestiegen: Inzwischen war so ein Ding selbst auf einem Chefschreibtisch unabdingbar, und die Suchfunktionen heutiger Betriebssysteme waren wie für Leute meiner Branche gemacht.
Mit diesen Hintergedanken schaltete ich Reto Hungerbühls PC ein und auch den seiner Sekretärin. Auch an ihrem Schreibtisch filzte ich Unterlagen, Kaiendarien und so weiter. Ich fand es interessant, was für eine Sammlung von Vitamintabletten, Ginsengkapseln und medizinischen Tees die Frau in ihren Schubladen beherbergte: Kein einziges dieser Mittelchen stammte aus dem Hause Rütlipharm.
Interessant, aber belanglos. Auch ihre Kaiendarien enthielten nichts, was mir weiterhalf oder meinen Argwohn in eine konkrete Richtung lenkte. Als der Bildschirm hell wurde, wandte ich mich dem PC zu, der ein Passwort verlangte, wie es aussah für die Anmeldung an einem zentralen Server.
Das kannte ich natürlich nicht. Ich sah an den üblichen Stellen nach, an denen Menschen Passworte aufschreiben, die ihrem Gedächtnis misstrauen – an der Unterseite der Tastatur, auf einem Zettel im obersten Schubfach, unter der Schreibtischunterlage, im Adressregister neben dem Telefon und so weiter –, fand aber nichts.
Das war ärgerlich, aber nicht überraschend. Sekretärinnen haben im Allgemeinen ein zu gutes Gedächtnis, als dass sie auf solche Tricks angewiesen waren. Wenn überhaupt, würde ich am PC des Chefs fündig werden.
Doch auch da hatte ich kein Glück. Reto Hungerbühl war, wie es schien, ein vorsichtiger Mensch.
Ich bin, wie schon erwähnt, von Haus aus kein Hacker. Trotzdem kenne ich mich mit Computern gut genug aus, um auch in einem solchen Fall noch nicht verzagen zu müssen. Der Server interessierte mich ohnehin nicht besonders; mein Interesse galt der Festplatte von Hungerbühls PC. Die Anmeldung im Netzwerk war nur ein lästiges Hindernis auf dem Weg dahin.
Ich zog die Diskette hervor, die ich in meinem kleinen Werkzeugkästchen verwahrte: eine Systemdiskette mit dem Betriebssystem MS-DOS 5.0, klein, altmodisch und bootfähig. Ich hatte die Systemprogramme so weit ausgedünnt, dass noch ein Suchprogramm darauf gepasst hatte, das zwar bei weitem nicht so komfortabel war wie moderne Suchfunktionen, aber nicht weniger brachial. Alles, was ich zu tun hatte, war, den Rechner mit meiner Diskette im Laufwerk neu zu starten, und kein Geheimnis darauf würde mir verborgen bleiben.
Doch zu meiner grenzenlosen Verblüffung besaß dieser Computer überhaupt kein Diskettenlaufwerk. Auch kein Laufwerk für CD-ROMs,
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