Der normale Wahnsinn - Roman
schaffen das, Michele.« Sie macht Anstalten, dieses Krematorium zu betreten, hält aber plötzlich inne. »Da ist noch was, das Sie wissen sollten«, sagt sie ein wenig zögernd. »Ali hat mir von diesem Typen erzählt, der Sie … na ja, der Sie verfolgt hat. Nun, ich muss Ihnen gestehen, dass ich ihn kenne. Er ist mit einer Freundin von mir verheiratet. Sie ist heute hier … und … ich möchte jetzt nicht, dass Sie erschrecken, aber … er ist auch hier.«
Siobhan : Ich sehe, wie sich ihr Körper angesichts dieser Information versteift.
»Es wird nichts passieren«, versichere ich ihr. »Dafür werdeich sorgen. Aber ich wollte, dass Sie es wissen … Ich denke, wir sollten jetzt reingehen.«
Ich setze mich in Bewegung, doch Michele bleibt zurück. Ich drehe mich zu ihr um und hake sie unter. »Bleiben Sie einfach bei mir, Michele. Zusammen werden wir das schon schaffen, okay?«
Siobhan : Also das war einfach … überwältigend. Hätte nie gedacht, dass man mit diesem Wort eine Beerdigung beschreiben könnte. Ja, es war schrecklich und verstörend und wunderbar gleichermaßen. So viel Liebe und Respekt für Paul. Und zugleich so viel Trauer und unausgesprochenes Bedauern für all die Jahre, die er nun nicht mehr erleben wird. Es gab viele Gedenkreden und Nachrufe, kein festgeschriebenes Programm in diesem Punkt. Ali hat nicht gesprochen – wie könnte sie auch –, aber es schien, dass jeder, dem Paul James Heath auch nur das Geringste bedeutet hat, sich erhob und etwas wirklich Wunderbares über ihn zu sagen hatte. Dom war einer von ihnen. Und er war erstaunlich. Zwar hat seine Ansprache nur ein paar Minuten gedauert, doch er schaffte es tatsächlich, viele von uns zum Lachen und zum Weinen zu bringen. Und da macht er sich Sorgen um seine Kreativität? Ehrlich, in solchen Momenten vergebe ich ihm einfach alles.
Auch Pauls Vater war unter den Rednern. Durch was für eine Hölle muss dieser Mann gerade gehen, und doch hat er sich ans Pult gestellt und voller Würde seine Ansprache gehalten. Eine wahrlich heldenhafte Vorstellung, bei der meine Tränen nur so geströmt sind. Fast war es, als hätte ich auch all jene Tränen mit vergossen, die Pauls Dad während seiner Ansprache so mannhaft zurückgehalten hat.
Und doch war er nicht der Star des heutigen Nachmittags. Dieses Verdienst kann ganz und gar Pauls Verleger für sich inAnspruch nehmen. Ich denke, nicht zuletzt die Fähigkeit zu so viel Ernsthaftigkeit und Tiefe hat ihn zu dem gemacht, was er heute ist: zum Kopf einer landesweit erscheinenden Tageszeitung. Jetzt, da die Trauerfeier vorbei ist, redet er gerade mit Ali. Ich frage mich, ob es wohl ein Trost ist, wenn nun alle Welt nicht müde wird zu betonen, dass der eigene Ehemann zu den begnadetsten Politik-Journalisten des Landes zählt. Ich wage es zu bezweifeln. Ach, und wir müssen uns allmählich wohl daran gewöhnen, von Paul in der Vergangenheit zu sprechen, womit er zu den begnadetsten Politik-Journalisten des Landes zählte.
Ali : »Paul wird eine große Lücke hinterlassen, Ali, und das meine ich auch wörtlich – denn seine Kolumne wird der Titelseite unseres Blattes sehr fehlen. Er war einfach brillant, ein großer Visionär und Vordenker …«
Lass ihn einfach weiterreden, Ali, lass ihn einfach reden. Und sag ihm nicht, dass Paul eigentlich nicht viel von ihm gehalten hat. Und dass Paul deshalb auch annahm, dass sein Boss ebenfalls nicht die beste Meinung von ihm hatte.
»… ein- bis zweimal in jeder Generation gibt es einen Journalisten, der einfach unersetzlich zu nennen ist. Und die Betroffenheit und Trauer über diesen Verlust, die uns von Leserseite erreichte, war einfach …«
Ja, genau das hab ich mir als das Schlimmste von allem vorgestellt: diese ganzen Lobeshymnen auf Paul, die, das will ich keineswegs bezweifeln, alle absolut aufrichtig gemeint sind.
»… ich nehme an, Sie haben die Nachrufe in der Times und im Telegraph gelesen? All die Rivalitäten und Eifersüchteleien sind vergessen, sobald es einen der Unsrigen so tragisch aus unserer Mitte reißt …«
Nein, ich hab die Nachrufe nicht gelesen. Hab mich nicht getraut. Hab in der letzten Woche ohnehin kaum den Kopf gehoben und es gewagt, irgendwo hinzusehen. Habe mich verstecktund wollte der Tatsache nicht ins Auge blicken – dass er fort ist … für immer.
»… wenn sie dieses Tier, dass das getan hat, kriegen …«
Und der Tatsache, dass ich an allem schuld bin.
»Bitte entschuldigen Sie,
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