Der normale Wahnsinn - Roman
da, aber ich kann Ihnen sagen, dass er nie und nimmer irgendwelche Schulkinder berauben würde«, sage ich.
»Sind Sie seine Mutter?«, fragt mich der Mann. Er ist groß und hat gelocktes, irgendwie schmutzig aussehendes Haar.
»Ja, das bin ich, wenn Sie’s genau wissen wollen«, erwidere ich.
»Wo ist er, Mrs Priestley?«
»Woher soll ich das wissen. Mein Junge ist fast zwanzig. Er muss mir nicht mehr sagen, wo er ist und wann er wieder heimkommt.«
»Können wir bitte reinkommen?«
»Wenn Sie mit mir reden wollen, können wir das genauso gut hier erledigen.«
Der Mann ist gebaut wie ein Panzer, aber er müsste sich den Weg in meine Wohnung trotzdem erkämpfen, wenn’s hart auf hart käme.
»Nun gut, wenn Sie unbedingt wollen, dass Ihre Nachbarn alles mitbekommen. Andererseits möchten die vielleicht erfahren, mit wem sie Tür an Tür wohnen, wer weiß«, sagt er. »Können Sie uns sagen, wo Ihr Sohn am letzten Donnerstag war?«
»Letzten Donnerstag? Was fragen Sie mich? Er war doch bei Ihnen! Sie hatten ihn doch festgenommen und den ganzen verdammten Tag auf dem Revier schmoren lassen.«
»Er half uns bei unseren Ermittlungen, Mrs Priestley. Das aber nur bis sechs Uhr. Wissen Sie, was er danach gemacht hat?«
»Er kam nach Hause.«
»Um welche Uhrzeit war das?«
»Weiß ich nicht. Sie erwarten doch nicht von mir, dass ich bei jeder Gelegenheit auf die Uhr schaue, oder was?«
»Na ja, wann denn ungefähr?«
»Vielleicht um acht … oder gegen neun.«
Der Mann dreht sich zu seiner Kollegin um, und sie lächelt ihm zu.
»Können wir hereinkommen und drinnen auf Ihren Sohn warten? Wir müssen wirklich dringend mit ihm sprechen«, sagt der Mann, der sich offenbar zwingen muss, nicht zu grinsen.
»Mein Abendessen steht so gut wie auf dem Tisch«, erwidere ich. »Ich werde nicht essen, während Sie beide mich dabei unentwegt anstarren.«
»Es handelt sich um eine ernste Angelegenheit, Mrs Priestley«, sagt der Mann und macht einen halben Schritt auf mich zu. »Ihr Sohn könnte in größten Schwierigkeiten stecken.«
»Wovon reden Sie eigentlich?«
»Sie haben doch sicherlich von dem Mädchen gehört, dass letzten Donnerstag in den Highgate Woods ermordet wurde, oder?«
»Auf keinen Fall!«, schreie ich. »Nicht Carlton. So was würde er niemals tun. Niemals!«
»Ja, klar, auch Mrs Sutcliffe hat hoch und heilig geschworen, dass ihr kleiner Peter nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun könne. Schauen Sie, es wäre wirklich besser, wir würden drinnen auf Ihren Sohn warten.«
Wieder macht er Anstalten hereinzukommen, doch dann hält er inne. Aus dem Treppenhaus ist ein Geräusch zu vernehmen. Wir wohnen im dritten Stock, aber der Hausflur ist ganz aus Beton, und man hört hier wirklich jeden Schritt. Die Cops sind jetzt mucksmäuschenstill. Ich auch. Da ist wieder dieses Geräusch. Jemand spricht, und das Echo hallt durch den Hausflur. Es ist die Stimme eines Mädchens. Dann ertönen Schritte. Hohe Absätze und ein Schlurfen, das nur von Carlton stammen kann. Ich würde seinen Gang immer und überall wiedererkennen.
Michele : »Bist du sicher, dass deine Mutter nichts dagegen hat?«, frage ich.
»Nee, die ist cool«, sagt Carlton. »Und vielleicht ist sie jaauch gar nicht da. Die hat ziemlich kranke Arbeitszeiten, weißt du. Sehe sie manchmal tagelang nicht, Mann.«
Ich hake mich bei ihm unter, und wir steigen die Treppe rauf. Ich kenne Carlton jetzt schon so lange, aber ich war noch nie bei ihm zu Hause. Dabei wohnt er nur fünf Minuten von mir entfernt in diesem Mietshaus auf der anderen Seite der Green Lanes.
Wir haben den ganzen Nachmittag zusammen verbracht. Das war toll. Nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen. Ich bin immer noch ziemlich durcheinander wegen dem, was mit Kerry passiert ist, und das Wort »toll« hört sich vielleicht so an, als ob wir ’nen Riesenspaß gehabt hätten und so. Aber so war es nicht. Es war einfach was ganz Besonderes …
Carlton ist was ganz Besonderes.
Hab ihn nach der Sache mit Kerry nicht mehr gesehen, aber dann hat er mich heute um die Mittagszeit herum angerufen. Wollte wissen, was ich gerade mache, und dann hat er mir gesagt, dass es ihm richtig mies geht und so. Das hat mich irgendwie überrascht. Nicht, dass es ihm mies ging, sondern dass er’s mir erzählt hat. Normalerweise redet Carlton nicht viel über sich. Das ist auch eines der Dinge, die ich immer an ihm gemocht hab, seine Zurückhaltung. Jeder in unserer Clique ist irgendwie laut
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