Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
dass man sich wunderte, dass die Dinger ihnen nicht vom Kopf rutschten. Überall funkelte Schmuck: Broschen, Ohrringe, Kolliers, Ketten, Armbänder und Ringe. Die Männer waren eher schlicht gekleidet. Sie trugen schwarze Smokings mit hellen Krawatten.
Auch Dorothy schien von so viel Eleganz überrascht zu sein. Immer wieder flüsterte sie beeindruckt: »Das ist ja unglaublich!«
Ihr Gatte strahlte dabei so selbstsicher, als wäre er persönlich für all den Glanz verantwortlich. Er griff bei jeder Gelegenheit nach Dorothys Händen, um sie anschließend mit Küssen auf die langen Handschuhe zu bombardieren.
Kurz nachdem Dorothy und Lord von Breitenbach ihre Suiten bezogen hatten, spielte ich keine Rolle mehr in Dorothys Leben. Hier, wo Fülle, Wohlstand und Reichtum ein Zuhause hatten, schien sie weder Glück noch einen Talisman zu brauchen. Vielleicht wollte sie aber auch nicht mehr an ihre Stiefmutter erinnert werden. Auf jeden Fall stellte sie mich achtlos auf eine Kommode in ihrem Schlafzimmer, wo ich mich in einem großen Spiegel von nun an nur noch selbst betrachten konnte. Das war auf die Dauer ziemlich langweilig. Ab und an bekam ich Dorothy noch kurzzeitig zu Gesicht, wenn sie sich in der Nacht übermüdet und angetrunken aufs Bett fallen ließ, um kurz darauf schnarchend einzuschlafen.
* * *
Erst zwei Tage nach der Abfahrt und zwei langweilige, nicht enden wollende Tage und Nächte auf der Kommode im Schlafzimmervon Dorothy änderte sich alles. Dorothy kam eines Abends ganz aufgeregt in ihre Suite gestürzt und griff nach mir. Hastig, sodass ihr Kleid dabei knisterte, trug sie mich durch die langen Gänge des Schiffes hinauf in den Speisesaal. In diesem mit Passagieren der ersten Klasse voll besetzten Saal war aber nicht die wohlklingende Musik eines Orchesters zu hören, wie zu erwarten gewesen wäre; stattdessen war ein für diese Räumlichkeit untypisches Geräusch zu vernehmen, das Geschrei eines Kindes. Es klang hoch, fiepend und grässlich. Es war ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, mit blonden Zöpfen und einem zerknautschten Gesicht, das unter den Kronleuchtern so rot und unwirklich schimmerte wie ein Flusskrebs. Die Leute um es herum hielten sich die Ohren zu.
Dorothy stellte mich auf den Tisch, an dem das Mädchen saß. »Schenk ich dir!«, sagte sie und zeigte auf mich, der jetzt direkt vor dem schreienden Mädchen und inmitten von nicht angerührten Eisbechern, Früchteschalen und Tortenstücken stand.
Augenblicklich verstummte das Kind. Es schaute mich mit großen, verweinten Augen an, als wäre ich direkt durch die Glaskuppel vom Himmel gefallen. Das rote, verquollene Gesicht entspannte sich, der offene Mund schloss sich.
Alle am Tisch hielten den Atem an und nahmen ihre beringten Hände von den Ohren, langsam und abwartend, um sie jederzeit mit einer raschen Handbewegung wieder zu verschließen. Aber das war nicht nötig. Kein Laut drang mehr aus dem kleinen Schreihals.
Das Mädchen griff zaghaft nach mir, nahm mich in den Arm und ließ mich nicht mehr aus den Augen. Tosender Applaus setzte ein. Die Hände, die Minuten zuvor noch krampfhaftOhren zugehalten hatten, spendeten jetzt Beifall, als wäre der Speisesaal ein Konzerthaus. Die Musiker, die ein wenig ratlos vor ihren Instrumenten standen, schauten neidisch drein. Die mürrischen Gesichter der Leute an den Tischen hellten sich schlagartig auf. Die nach unten gezogenen Schnauzbärte der Männer schnellten blitzartig nach oben. Ein Lächeln legte sich auf ihre zuvor noch skeptischen Gesichter.
Lord von Breitenbach, mit rot glänzenden Wangen, erhob sich schwerfällig, aber gut gelaunt von seinem Stuhl. Er nahm sein Weinglas und klopfte mit einem Silberlöffel zweimal dagegen, dass es wie eine hell tönende Glocke klang. Es wurde mucksmäuschenstill. Der dicke Lord blickte in die Runde, dann zu seiner Frau. Er räusperte sich kurz und sagte:
»Liebe Mitreisende, lasst uns die Gläser erheben und auf meine kluge, junge hübsche Frau trinken, sowie auf das zur Vernunft gekommene Mädchen Ros, auf ihre glücklichen Eltern und auf uns alle, die wir bei dieser legendären Jungfernfahrt das unbeschreibliche Vergnügen haben, dabei sein zu dürfen. Hebt das Glas und lasst uns trinken!«
Alle standen jetzt von ihren Stühlen auf, griffen nach ihren halb gefüllten Weingläsern und prosteten sich feierlich zu.
Nur das Kind blieb sitzen und hielt mich noch immer in den zitternden Händen. »Auf den Nussknacker!«, rief es plötzlich
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