Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
und frostig wurde wie an einem Wintertag. Es roch sogar nach Winter. Aber wir hatten April. Es war Frühjahr.
Komisch , dachte ich, wie kann es im Frühling nach Winter riechen? Nach Schnee und Eis? Und wie kann es auf einmal so kalt sein?
Wir standen auf Deck C, genau an der Reling, und schauten aufs Wasser. Über uns zogen Wolken dahin.
»Du bist nicht von hier unten, stimmt’s?«, fragte Doren.
Ros schüttelte den Kopf.
»Aus der ersten Klasse, was?«
Ros nickte verlegen. Es schien ihr peinlich zu sein.
»Stimmt es, dass da oben die Wasserhähne aus Gold sind?«
»Sie sehen jedenfalls so aus.«
»Und da gibt’s riesige Badewannen aus Marmor?«
»Glaub schon.«
»Warum bleibst du dann nicht oben?«
»Es ist langweilig.«
»Und hier?«
»Hier nicht.«
Doren lachte. Ros lachte auch. Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte.
»Verdammt kalt hier!«, sagte Ros.
»Ich geb dir meine Jacke.« Doren wollte gerade ihre Jacke ausziehen, als Ros plötzlich schrie: »Doren! Ich werd verrückt! Guck mal!«
Doren guckte, und ich guckte auch. Das, was vor uns auftauchte, sah aus wie ein riesiges schwarzes Nichts. Schwärzer als die Nacht.
Eine finstere Wand schob sich zwischen Sternenhimmel und Wasser. Ein gewaltiger schwarzer Schatten. Eine drohende Silhouette, die immer näher kam.
»Was ist das?«, fragte Doren.
»Ein Riese!«, rief Ros.
»Quatsch!«
Je näher die Wand kam, umso mehr hellte sie sich auf. Als sie ganz nah vor uns war, sah sie plötzlich weiß glänzend aus, wie schimmernder Schnee.
»Das ist ein Eisberg, Ros! Pass auf! Geh in Deckung! Weg von der Reling!«
Es rumste. Das ganze Schiff erzitterte. Doren und Ros fielen zu Boden und rutschten von der Reling weg. Ros konnte mich nicht mehr festhalten. Ich schlitterte über die Planken. Eisbrocken wurden wie Konfetti in die Luft geschleudert und prasselten auf das Deck.
Jetzt fuhr das Schiff nicht mehr. Es trieb fast lautlos im Wasser. Die Schornsteine dampften kaum noch.
»Wir fahren nicht mehr!« Ros versuchte sich aufzurichten.
»Haben die Heizer eben Pause«, sagte Doren, die schon wieder auf beiden Beinen stand und ein paar Eisbrocken über das Deck kickte.
Ich lag noch immer auf dem Boden und hoffte, dass die beiden Mädchen mich in der ganzen Aufregung nicht vergaßen.
»Mein Nussknacker! Wo ist mein Nussknacker?«, rief Ros plötzlich, als ob meine Befürchtung auch ihre wäre.
»Hier!«
Doren entdeckte mich inmitten der Eisbrocken. Während Ros mich wieder an sich nahm, tauchten Männer der Besatzung auf dem Deck auf. Es waren Matrosen, Stewards und Offiziere in blauen Uniformen. Auch sie schienen überrascht zu sein. Sie redeten aufgeregt durcheinander, beugten sich über die Reling und versuchten etwas zu erkennen. Dann kamen auch Passagiere. Manche hatten schon Schlafanzüge und Nachthemden an. Sie wollten besorgt wissen, warum geankert worden sei und was es mit diesem Halt auf sich habe. Manche fragten, ob das Ruckeln normal gewesen sei.
»Da stimmt doch was nicht!«, sagte einer.
Ein anderer fragte verschlafen: »Sind wir schon da?«
Ein Dritter tippte sich an die Stirn und entgegnete: »Klar, da vorne ist die Freiheitsstatue!«, worauf die meisten lachten.
»Kein Grund zur Beunruhigung«, versuchte ein Offizier für Ruhe zu sorgen. »Ein außerplanmäßiger Halt für ein paar kleinere Reparaturen. In ein paar Stunden geht es weiter. Gehen Sie zurück in Ihre Kajüten und schlafen Sie weiter.«
Irgendwie klang das gar nicht überzeugend. Zumindest nicht für Ros, Doren und mich.
»Da stimmt was nicht!«, flüsterte Doren. »Reparaturen? Dass ich nicht lache!«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Ros besorgt.
»Herausfinden, was wirklich los ist!«
»Aber wie?«
»Komm mit!«
Wir schlichen uns unter den noch immer aufgeregt diskutierenden Passagieren hindurch nach oben zu Deck A. Da brannte überall noch Licht. Viele Menschen der ersten Klasse saßen noch in den Salons, rauchten, tranken und feierten wie jede Nacht. Ich sah auch Ros’ Eltern. Ros entdeckte sie ebenfalls.
»Nichts wie weg hier!«
Sie nahm Doren bei der Hand und rannte davon.
* * *
Nicht weit von der ersten Klasse entfernt war die Kommandoebene, wo sich der Kapitän und seine Offiziere aufhielten.
»Vielleicht kann man von denen was erfahren«, sagte Doren und huschte den Gang entlang. Ros folgte ihr.
An der Tür zur Kommandoebene blieben wir stehen. Die Tür war nur angelehnt. Stimmen waren zu hören. Männer sprachen aufgeregt
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