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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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verstummte sie und wurde ganz blass im Gesicht. Sie sagte nichts mehr, starrte nur noch vor sich hin, nickte zweimal und legte den Hörer auf.
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie den Schock abschütteln konnte. »Los, schnell, alles zusammenpacken!«
    »Aber …«
    »Fragt nicht, macht!«
    Die Mutter blickte so ernst, dass Irén nicht mehr zu fragen wagte, was los sei.
    In Windeseile packten sie alles, was sie auf die Schnelle greifen konnten, in einen Koffer und einen Rucksack. Sie zogen ihre Mäntel an, schlüpften in ihre Schuhe und schlossen die Wohnungstür hinter sich.
    »Mama, wir haben den Schlüssel stecken …«, setzte Irén an.
    »Den brauchen wir jetzt nicht mehr!«, unterbrach ihre Mutter sie, strich ihr mit der linken Hand über die Haare und winkte mit der rechten ein Taxi herbei. Die Mutter stieg vorne ein. Irén, Lehel und ich nahmen auf der Rückbank Platz.
    »Zum Bahnhof!«
    Das Taxi fuhr los. Es regnete. Draußen auf den Straßenwaren Panzer und Soldaten unterwegs. Das Kettengerassel machte mir Angst.
    »Was ist denn hier los?«, fragte Lehel mit piepsender Stimme.
    »Konterrevolution«, entgegnete der Taxifahrer. Dabei war sein besorgtes Gesicht im Innenspiegel zu sehen.
    Auch am Bahnhof standen eine Menge Soldaten mit Maschinengewehren, außerdem Polizisten und mehrere Panzer. Die Mutter kaufte am Schalter drei Fahrkarten. Wir stiegen in einen Zug, der von Gleis drei abfuhr.
    Als wir schon im Abteil saßen, fragte Irén: »Wo ist Papa?«
    »Verhaftet«, kam leise, kaum hörbar aus dem Mund der Mutter.
    »Und wo fahren wir hin?«
    »Nach Österreich!« Es klang wie: »In den Himmel.«
    »Nach Österreich?«
    »Zu Tante Erzsébet.«
    Also doch eher wie die Hölle, schien Irén zu denken.
    * * *
    Es war bereits Nacht. Beim Blick aus dem Fenster war der Himmel ganz schwarz, kein einziger Stern war zu sehen. Im letzten Bahnhof vor der österreichischen Grenze, der so leer und verlassen wirkte, als wäre hier das Ende der Welt, stiegen wir aus.
    »Warum, Mama? Warum steigen wir aus?« Irén war schon so müde, dass sie immerzu gähnen musste.
    »Weil wir über die Grenze müssen«, sagte die Mutter, als wäre es das Normalste auf der Welt. Was Irén noch misstrauischer machte.
    »Warum fahren wir nicht einfach mit dem Zug über die Grenze?«
    Die Mutter blieb auf dem Bahnsteig stehen.
    Sie beugte sich zu ihren zwei Töchtern hinunter und sagte leise und in einem Tonfall, als gäbe es darüber nichts zu diskutieren: »Das geht nicht.«
    »Aber wie dann?«
    »Zu Fuß.«
    »Zu Fuß?« Irén schien es nicht glauben zu wollen. »Aber ich bin so müde .« Sie gähnte wieder, als wollte sie ihre Worte unterstreichen.
    »Ich auch«, sagte Lehel, ohne zu gähnen.
    »Wir können nur nachts über die Grenze«, sagte die Mutter. »Nachts sieht uns vielleicht keiner. Und jetzt ist Nacht. Morgen ist es vielleicht schon zu spät.«
    Die Mutter versuchte, es den beiden Mädchen leise und unaufgeregt zu erklären.
    »Woher weißt du das?«
    »Papa hat’s gesagt. Er hat auch gesagt, seine zwei großen Mädchen sollen sich zusammenreißen und ihn nicht enttäuschen.«
    Irén und Lehel sagten von nun an nichts mehr.
    Die Mutter erhob sich wieder, nahm den Koffer auf und ergriff Iréns linke Hand. Irén wiederum nahm ihre Schwester an der Hand. So trotteten von nun an beide stumm neben ihrer Mutter her.
    Zuerst gingen sie über den Bahnhofsvorplatz, dann die Straße entlang und schließlich querfeldein. Die Augen der beiden Mädchen waren halb geschlossen. Ab und zu gähnten sie. Immer wieder ermahnte die Mutter die beiden, schnellerzu gehen. Die Mädchen nickten, gingen aber eher langsamer. Regen setzte ein.
    »Da vorne muss die Grenze sein«, flüsterte die Mutter. »Wenn wir dieses Waldstück hinter uns haben, sind wir in Österreich. Dann wird geschlafen, einverstanden?«
    Die Mädchen nickten müde und erschöpft, wurden aber hellwach, als Schüsse peitschten.
    »Los, runter!«
    Die Mutter gab den beiden einen Klaps. Alle warfen sich kopfüber auf den mittlerweile nassen, schlammigen Acker.
    »Was war das?«, fragte Irén ängstlich.
    »Weiß nicht«, kam ebenso ängstlich zurück.
    Entweder die Grenzposten haben uns gesehen , dachte ich, oder sie schießen zur Abschreckung wahllos in die Luft.
    Wieder waren Schüsse zu hören.
    »Entweder die haben uns gesehen«, sagte die Mutter, als hätte sie meine Gedanken erraten, »oder die schießen zur Abschreckung wahllos in die Luft.«
    Wer die waren, wollte die

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