Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
steckte mich in ihren kleinen Rucksack, in dem es auffällig nach Schuhcreme und Leberwurst roch. Zuerst roch es nur, dann stank es, und zuletzt raubte der Geruch mir sämtliche Sinne. Ich glaube, ich wurde ohnmächtig, denn ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich es in dem übel riechenden Rucksack aushalten musste.
Jedenfalls, als ich irgendwann wieder den Kopf aus dem Rucksack streckte, war ich nicht mehr in Bern. Keine Berge weit und breit. Die Schweiz lag hinter uns, so viel war klar. Aber wo war ich? Ich sah einen Fluss, eine riesige Brücke und große Häuser, die mich an Berlin erinnerten. Ich hörte Geräusche von Schiffen, von Autos. Lärm. Und Menschen, dieganz anders redeten, als ich es kannte. Nur das Mädchen verstand ich, obgleich es vermutlich auch anders sprach, als ich es gewohnt war.
»Na, das hättest du nicht gedacht?«
Was das Mädchen damit meinte, blieb mir rätselhaft. Ich versuchte trotzdem zu nicken.
»Rate mal, wo du hier gelandet bist!«
Ich hob die Schultern.
»Da kommst du nie drauf.«
Das Mädchen hatte recht. Ich kam nicht drauf.
»Budapest!«, sagte es. Es klang wie »Butterbrot«.
Ich schmunzelte, als ich plötzlich die Stimme einer Frau hörte.
»Irén, mit wem redest du da?«
Irén erschrak. »Mit mir selbst!« Irén legte ihren Zeigefinger auf den Mund und zwinkerte mir zu.
»Mit dir selbst, mit dir selbst!«, äffte die Frau das Mädchen nach. »Nur Idioten reden mit sich selbst.«
Eine dicke Frau mit einer Kittelschürze um den Bauch kam auf uns zu. Ihr Gesicht glänzte. Sie roch ein bisschen nach Schweiß und noch stärker nach Parfum. Vor Irén blieb sie stehen, stemmte die Arme in die Hüften und musterte mich mit großen Augen. Einerseits verwundert, andererseits ganz ernst fragte sie: »Wo hast du das denn her?«
»Den! Den , Mama! Das ist ein Er.« Irén hob mich begeistert hoch und hielt mich wie eine Trophäe in die Luft.
Iréns Mutter wischte mit kurzen Bewegungen eine Hand vor dem Gesicht hin und her. Sie schien weniger begeistert zu sein.
»Das ist ein Stück Holz, Irén.« Wieder stemmte sie die Hände in die Hüften. Es sah alles anders als freundlich aus.
»Das ist ein Nussknacker, Mama. Das sieht man doch.«
Irén klang eine Spur besserwisserisch und altklug.
Wieder wedelte die Mutter mit der Hand vor ihrem Gesicht. Noch schneller, noch vehementer. »Und wo hast du das her?«, wollte sie wissen.
»Ich hab ihn gefunden.« Irén zog mich an sich, als wollte sie mich beschützen.
»Gefunden?« Die Mutter schüttelte den Kopf. Ihre frisch gelegten Locken wackelten lustig. »Sag mal, willst du mich veräppeln? Ich kenn dich doch!« Sie beugte sich zu ihrer Tochter vor. »Bestimmt hast du’s gestohlen. Bring es sofort wieder zurück, sonst passiert was.«
Was passieren würde, schien Irén augenblicklich klar zu sein. Sie packte mich, entzog mich dem finsteren Blick ihrer Mutter, stand auf und ging davon.
»Manchmal ist sie komisch«, flüsterte Irén mir zu. »Manchmal meint sie es aber nicht so.«
Irén brachte mich natürlich nicht dahin zurück, wo sie mich herhatte. Wie auch.
Sie strich mir über den Kopf, lächelte verschmitzt und sagte: »Das kriegen wir schon hin.«
Von nun an musste ich mich ständig im Verborgenen aufhalten. In Strümpfen, Taschen, Beuteln. Oder Irén verbarg mich unter ihrer Bettdecke vor ihrer entschlossenen Mutter und allen anderen, die Anstoß an mir nehmen konnten, und das waren viele, denn in der Wohnung ging es manchmal zu wie auf einem Basar. Abends kamen meist Leute ins Haus, die im Wohnzimmer rauchten, diskutierten und Alkohol tranken. Ziemlich viel Alkohol. Ab und zu stand einer auf, reckte den Arm empor und schrie mit rotem Gesicht undglasigen Augen: »Nieder mit den Bolschewisten!« oder »Raus mit den Russen!«
Woraufhin die anderen ebenfalls aufsprangen, hastig »Pssst!« machten und versuchten, den Rufer auf das Sofa zurückzuziehen, was auch leicht gelang.
Ich lag dann meistens schon mit Irén und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Lehel im Bett. Irén musste Lehel dann immer erklären, was die unruhe im Wohnzimmer zu bedeuten hatte. Meistens erzählte sie irgendeine erfundene Geschichte, die so wirr und kompliziert war, dass Lehel ihr nicht folgen konnte und kurze Zeit später vor Ermüdung einschlief. Oft stand Irén dann auf, schlich sich im Nachthemd und auf Zehenspitzen aus dem Kinderzimmer in den dunklen Flur und von da zum Wohnzimmer, um durch den Türspalt oder das Schlüsselloch
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