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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Mutter allerdings nicht sagen.
    Wir blieben noch immer am Boden liegen, wobei Iréns Hand mich fest umklammerte. Auch ich spürte die Kälte und den Regen auf meinem Körper.
    »Was hast du denn da in der Hand?«, fragte die Mutter und zeigte auf mich.
    »Ach, nichts«, sagte Irén. Woraufhin die Mutter ganz leise und kaum hörbar »Mädchen, Mädchen« sagte.
    Wir warteten noch eine Weile. Dann robbten alle, ich noch immer in Iréns Hand, auf allen vieren über den Acker in das angrenzende Waldstück.

1956 – 1957, Wien, Österreich, Auffanglager Nürnberg, BRD
    Am nächsten Nachmittag kamen wir mit dem Zug am Westbahnhof in Wien an. Es regnete noch immer. Es war kein schöner Anblick. Auch wir nicht. Wir alle waren ziemlich verdreckt, sahen aus wie Obdachlose, waren total übermüdet und erschöpft.
    Die Freude der Tante über Irén, Lehel und ihre Mutter hielt sich dementsprechend in Grenzen.
    »Jetzt haben euch eure eigenen Leute im Stich gelassen, was?«, sagte die Schwester von Iréns Mutter zum Empfang mit einer Stimme, die Häme in sich trug. »Ich habe schon immer gesagt, das mit den Kommunisten wird nichts. Das habt ihr jetzt davon.«
    Sie richtete ihre leeren Handflächen nach oben, was nur »selber Schuld!« bedeuten konnte.
    Ihr Mann schnäuzte sich auffällig laut in ein großes kariertes Taschentuch, zündete sich dann eine Zigarette an undverschränkte die Arme vor der Brust über dem Unterhemd, aus dem ein schwarzes Büschel Haare lugte.
    »Und jetzt kommt ihr zu mir.«
    Die Tante, die ihrer Schwester äußerlich ähnlich sah, nur ein paar Jahre jünger zu sein schien, sagte es noch immer herablassend und so, als wäre der Aufenthalt schon wieder zu Ende, ehe er richtig begonnen hatte.
    »Ihr seht ja selbst, meine Wohnung ist klein. Zu klein für fünf. Viel zu klein.«
    Sie war gar nicht so klein. Obwohl es für fünf Personen auf die Dauer schon eng werden würde. Das schien auch Iréns Mutter klar zu sein. Sie sagte aber nichts, während der Mann ihrer Schwester mehrmals nickte. Tante Erzsébet zeigte mit einer weit ausholenden Handbewegung demonstrativ im Wohnzimmer herum, das mit Möbeln vollgestellt war.
    Ich merkte natürlich, dass Iréns Mutter vor Wut kochte. Doch sie biss sich auf die Lippen und sparte sich jede Kritik an der jüngeren Schwester. Auch Irén schien sich ihre Tante anders vorgestellt zu haben, jedenfalls nicht so garstig.
    »Meinetwegen könnt ihr ein paar Tage bleiben. Aber dann müsst ihr verschwinden, ist das klar?«
    Die Mutter nickte bloß, wobei sie den Mund zusammenkniff, damit ihr keine unbedachte Bemerkung über die Lippen kam. Irén nickte ebenfalls. Lehel hingegen sah so aus, als würde sie von dem, was sich hier abspielte, nicht viel begreifen.
    »Warum gehst du denn nicht zu Zoltan?« Die Tante verschränkte die Arme vor der Brust, ähnlich wie ihr Mann.
    »Zoltan?«, fragte Iréns Mutter überrascht. »Der ist in Deutschland.«
    »Umso besser, dann ist es ja nicht so weit«, meldete derMann der Tante sich zum ersten Mal zu Wort und steckte sich eine weitere Zigarette an.
    »Nicht so weit?«, fragte Iréns Mutter ungläubig.
    »Mit dem Zug sind es gerade mal zehn Stunden.«
    Der Mann der Tante lachte, dass die Zigarette im Mundwinkel lustig auf und nieder wippte. Die Tante sagte: »Hör auf, Robert.«
    Das tat er dann auch.
    * * *
    Zwei Tage später saßen wir schon wieder im Zug. Dieses Mal ging es nach Deutschland.
    An der Grenze wurden wir von Polizeibeamten festgenommen, weil wir keine Einreiseerlaubnis hatten.
    »Ohne Visum kommen Sie hier nicht rein.« Der uniformierte Grenzbeamte gab sich unerbittlich und kontrollierte dabei das spärliche Gepäck.
    »Wir wollen Asyl«, sagte die Mutter. Ich erinnerte mich an Paris, an Frau Weniger, Anna, Herrn Blumenthal und die anderen.
    Der Grenzbeamte fand nichts Verdächtiges. Er klappte den Koffer wieder zu und sagte, fast ein wenig erleichtert: »Na, dann ab ins Lager.«
    Er begleitete Irén, Lehel und ihre Mutter aus dem Zug. Seit Wien steckte ich in Iréns Hosentasche.
    »Im Lager können Sie eine Aufenthaltsbewilligung beantragen und so lange bleiben, bis die bearbeitet ist.«
    Offenbar ließ die Entscheidung der Mutter, in Deutschland Asyl zu beantragen, den Grenzbeamten ein bisschen gefälliger werden.
    »Haben Sie Verwandte hier?«, wollte er wissen.
    Die Mutter schüttelte vehement den Kopf.
    »Was ist mit Zoltan?«, fragte Irén und sah ihre Mutter fragend an.
    Der Grenzbeamte schaute erstaunt, dann fragte

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