Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
diesem Fräulein nicht einfach sagen lassen, was sie zu tun oder zu lassen habe.
»Wenn du’s nicht essen willst, geb ich es zurück.«
Das wollte Irén nun auch wieder nicht und griff schnell nach dem Löffel.
Fräulein Schmitz zündete sich eine Zigarette an, zog gierig daran und blies den Rauch zur Kantinendecke hoch.
»Na, hast du dich hier schon eingelebt?«
Irén sagte nichts, blickte noch immer in den Pudding.
»Bisschen eng im Zimmer, was?« Das Fräulein schnippte die Asche ihrer Zigarette auf einen leeren Teller. »Ich will hier so schnell wie möglich weg! ’Ne eigene Wohnung in der Stadt oder auch anderswo. Sobald ich meine Papiere habe – Abflug!« Fräulein Schmitz machte ein Geräusch wie ein Flugzeug und verdeutlichte den »Abflug« mit der Hand, die durch die Luft sauste. »Ich komme aus der Ostzone. DDR! und du?«
»Ungarn«, sagte Irén.
»Habt euch rechtzeitig davongemacht, was?«
Wieder hob Irén die Schultern und schaufelte dabei den Pudding in sich hinein.
»Sei froh, dass du hier bist. Bei den Kommunisten ist das Leben nur halb so schön.«
Wieder lachte sie, während ich einen Seitenblick in den Raum wagte und den Gedanken nicht loswurde, dass es so viel schlechter als hier drin auch nicht sein konnte.
»Ich bin froh, dass ich dieses Gefängnis verlassen habe. War gar nicht so einfach. Musste bei Nacht und Nebel durch denFluss schwimmen. Aber jetzt bin ich ja hier, und jetzt wird alles besser.«
Doch die dunklen Ringe unter ihren Augen ließen darauf schließen, dass sie selbst nicht so recht daran glaubte.
»Du musst aufpassen. Hier im Lager gibt’s ’ne Menge Spitzel«, sagte Fräulein Schmitz, während Irén noch immer den Pudding in sich hineinlöffelte. »Die wollen dich aushorchen und herausfinden, warum du hierhergekommen bist, und was du hier willst.« Sie ließ den Blick durch die Kantine schweifen. »Siehst du den Mann da drüben? Den mit dem Hut?«
Irén blickte vom Pudding auf und schaute zum anderen Ende der Kantine in der Nähe der Tür.
»Der könnte einer von den Spitzeln sein. Den ganzen Tag schnüffelt der hier rum und fragt Leute nach anderen aus.«
Wie will dieses Fräulein Schmitz das wissen, wenn sie den ganzen Tag im Bett liegt? , fragte ich mich.
»Hat er dich auch schon angeredet? Hat er dich nach mir gefragt?«
Irén schüttelte den Kopf.
»Na ja, nimm dich auf jeden Fall in Acht.« Sie drückte die Zigarette auf dem Teller aus und stand auf. »Ich geh dann mal.«
Sie strich Irén über die Haare. Irén hasste es, wenn jemand über ihre Haare strich. Zornig zog sie den Kopf weg. Fräulein Schmitz verharrte kurz, blickte Irén direkt ins Gesicht und sagte: »Wäre es möglich, dass ihr morgens nicht immer so laut seid? Jedes Mal wach ich auf von dem Krach, wenn ihr aufsteht.«
»Hm«, machte Irén und wusste offenbar nicht, was sie sagen sollte. Mir fiel auch nichts ein.
»Also dann, bis morgen!«
Sie ging und ließ Irén alleine zurück.
Wir blickten ihr nach und sahen, wie sie lächelnd an dem Mann mit dem Hut vorbei nach draußen ging.
Schlange , dachte ich. Irén schien Ähnliches zu denken. Zumindest sah sie so aus.
* * *
»Na, wie geht’s den Ohren?«
Der blonde Junge am Tresen schmunzelte frech. Er schob Irén hinter dem Rücken der für die Lebensmittelausgabe zuständigen Frau eine Tafel Schokolade zu. Auch ohne Lebensmittelmarke.
»Na los, steck schon ein, bevor die Alte es sieht.«
Irén ließ die Tafel unter ihrem Pullover verschwinden. Der Junge schien zufrieden.
Er lud den Karton mit Schmelzkäse, Milch, Brot, Wurst, Tee, Marmelade und Konservendosen voll. Für jede Marke gab es ein Lebensmittel. Gerade so viel, dass Irén, die Mutter und Lehel über die Runden kamen. Kleider gab es gebraucht aus der Altkleiderkammer. Schön waren sie nicht, und manche hielten nicht einmal warm. Aus dem Lager raus traute Irén sich nur selten. Jeder konnte sie alleine schon an den schäbigen, abgetragenen Kleidern erkennen.
Nach der dritten Lebensmittelausgabe lud Max Irén zu sich nach Hause ein.
»Ich muss zuerst Mama fragen«, sagte Irén.
Iréns Mutter schien hin- und hergerissen. »Na gut«, sagte sie schließlich. »Aber benimm dich!«
Irén holte Max an der Lebensmittelausgabe ab und fuhr auf dem Gepäckträger von Max’ Fahrrad mit. Ich steckte wieder in der Tasche der viel zu weiten, schlabberigen Hose.
* * *
Max wohnte in einem zweistöckigen Haus mit einem schönen großen Garten am Rande der Stadt. Im Erdgeschoss
Weitere Kostenlose Bücher