Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
heimlich die Erwachsenen zu beobachten.
* * *
Iréns Vater war abends nur selten zu Hause, sodass Irén mit der Schwester und ihrer Mutter alleine war. Wenn sie die Mutter dann fragte, wo der Vater so spät noch sei, antwortete die Mutter immer nur geheimnisvoll: »Papa hat etwas Wichtiges zu erledigen.«
Was das war, wollte die Mutter nicht sagen. Irén fand es aber trotzdem heraus. Das war eines ihrer großen Talente. Sie gab nicht so schnell auf. Wenn sie etwas wollte, bekam sie es meistens auch. Sie war hartnäckig und ließ nicht locker.
Immer wenn Lehel sie fragte, wo der Vater denn sei, sagte Irén leise und noch verschwörerischer als ihre Mutter: »Papa bereitet die Revolution vor!« Dann kicherte sie verschämt, fügte hinzu: »Aber, pssst!«, und legte Lehel einen Finger auf denMund, woraufhin Lehel das Gesicht verzog, weil der Finger nach den Müllkübeln roch, in denen Irén immer nach Verwertbarem wühlte.
Tatsächlich traf Iréns Vater sich heimlich mit Journalisten, Schriftstellern und Musikern, die ebenfalls die Russen aus dem Land haben wollten. Sie trafen sich in Wohnungen und Büros, oft bis tief in die Nacht. Wenn der Vater unterwegs war, saß Iréns Mutter meist im offenen Morgenmantel in der Küche, mit Lockenwicklern in den Haaren, und paffte nervös an einer Zigarette.
* * *
»Jetzt haben wir es in der Hand«, sagte der Vater eines Tages, als er im Unterhemd und mit glänzendem Gesicht von der Morgentoilette zum Frühstückstisch kam. »Jetzt können wir endlich das Joch der unterdrückung abwerfen!«
Vor Begeisterung schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Tassen schepperten. »Jetzt jagen wir die Russen und die Geheimpolizei zum Teufel!« Wieder ein Schlag auf den Tisch, diesmal so fest, dass eine Tasse auf den Boden fiel. »Dann gehört ungarn wieder den ungarn!«
Die Mutter ließ die Tasse liegen. In ihrem rosageblümten Morgenmantel über dem weißen Nachthemd betrachtete sie skeptisch ihren Mann, als wüsste sie nicht, was der eigentlich im Schilde führte.
»Au ja!«, rief Irén, ähnlich begeistert wie der Vater. Auch sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Tassen zitterten.
Und Lehel, die sich von der Begeisterung ihrer Schwester anstecken ließ, rief: »Juhu!«
»Kinder!« Für die Mutter schien der Spaß nun doch zu weit zu gehen.
»Lass sie doch.« Wie so oft schlug der Vater sich auf die Seite seiner Töchter.
Die Mutter stand vom Tisch auf, verließ die Küche und ließ ein ärgerliches »Ihr spinnt doch!« zurück.
* * *
Gegen Ende des Sommers, als die Blätter bereits von den Bäumen fielen und die Tage immer kürzer wurden, lag ein unangenehmer Geruch über der Stadt. Die Luft roch verwegen nach Feuer, Rauch und Benzin, und auch ein wenig nach Aufstand. Immer wieder waren am Abend Schüsse aus der Ferne zu hören.
Iréns Vater war wieder unterwegs. Die Mutter ging auch am Abend noch immer mit ihrem Morgenmantel aufgeregt und rauchend in der Wohnung auf und ab. Von einem Fenster zum anderen, immer hin und her. Dabei blickte sie durch die verschmutzten Scheiben auf die Straße, als wäre da irgendetwas zu erkennen gewesen. War aber nicht.
Irén saß in ihrem Zimmer und war von den Schritten ihrer auf und ab gehenden Mutter ziemlich genervt. Aber noch ehe sie der Mutter sagen konnte, sie solle sich einfach in den Sessel setzen und abwarten, kam diese fix und fertig angezogen in Iréns Zimmer, nahm Irén und Lehel an der Hand und sagte: »Kommt mit, das ist hier ja nicht mehr auszuhalten!«
Sie verließ mit den Mädchen die Wohnung. Auch ich war dabei, denn Irén nahm mich heimlich in ihrem umhängetäschchen mit.
Wir gingen zur Stadtmitte. Immer mehr Menschen kamenhinzu, vor allem junge Leute. Bald war es ein riesiger Strom von Körpern, der sich durch die Straßen schob. Aus den Fenstern wurden Fahnen oder Teppiche gehängt. Die Leute marschierten geschlossen zum Parlamentsgebäude und riefen wie aus einem Munde: »Russen raus!«
Auch Irén fiel in den Ruf mit ein. Bei ihr hörte es sich aber weniger entschlossen oder gefährlich an. Eher lustig. Bei ihrer Mutter und allen anderen, die jetzt in der Menge vor dem Gebäude standen, konnte von Spaß allerdings keine Rede sein. Es waren Tausende von Menschen, die immer wieder ihre Forderungen riefen.
Mich erinnerte es an München, als ich mit Nora auf den Straßen unterwegs gewesen war und die Leute demonstriert hatten. Damals war es eine Revolution gewesen, bei der die Menschen
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