Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
auch er: »Was ist mit Zoltan?«
»Ach, nichts.« Die Mutter lächelte verlegen. »Zoltan ist ihr Teddy. Den mussten wir zurücklassen.«
Der Mann schmunzelte nun ebenfalls, während Irén sich hinter dem Rücken des Mannes an die Stirn tippte.
* * *
Wir kamen in ein Auffanglager im Fränkischen. Hier wimmelte es nur so von Menschen, die aus den verschiedensten Ländern kamen und die nur eines miteinander verband: Sie warteten wie Irén, Lehel und ihre Mutter, bis ihre Aufenthaltsbewilligung in der Bundesrepublik Deutschland bearbeitet war und sie entweder legal im Land leben durften oder zurückgeschickt wurden.
Es war hier in den Zimmern noch enger als in der Wohnung bei der Tante in Wien. Die Zimmer bestanden aus fast nichts als eisernen Doppelstockbetten. Oben schliefen ich und Irén, unten Lehel und daneben, auf einem weiteren Doppelstockbett, die Mutter und eine fremde ältere Frau. Auf dem dritten Doppelstockbett schliefen zwei weitere junge Frauen, die sich meistens erst hinlegten, kurz bevor die anderen aufstanden. Das Zimmer war klein und stickig. Die Wände zu den Nachbarzimmern waren so dünn, dass fast jedes Wort von nebenan zu hören war. Wenn die Nachbarn sich stritten, wurde es unerträglich. Wenn ein Baby weinte, bekam mankein Auge zu. Oft spielte ein Radio bis spät in die Nacht. Die Mutter klopfte dann an die Wand, worauf nebenan aber nur gelacht wurde. Irén stopfte sich Papier in die Ohren, das sie zuvor mit Spucke weich und geschmeidig gemacht hatte.
Nach einem Monat hatte sie eine böse Mittelohrentzündung. Wir gingen zu dem Arzt, der zweimal die Woche ins Lager kam. Er war sehr nett, hieß Dr. Kurze und sah ziemlich gut aus. So gut, dass Iréns Mutter immer ein wenig rot anlief, wenn er sie etwas fragte. Irén dagegen wurde kein bisschen rot. Auch nicht, als Dr. Kurze wissen wollte, wie alt sie sei.
»Dreizehn«, sagte Irén. Dr. Kurze pfiff durch die Zähne, sodass Iréns Mutter wieder rot anlief.
»Wie mein Max«, sagte Dr. Kurze. »Vielleicht hast du ihn schon mal gesehen. Er hilft manchmal bei der Lebensmittelausgabe.«
Irén schüttelte den Kopf, obwohl sie genau wusste, wen Dr. Kurze meinte. Es war der kleine blonde Junge, der die Lebensmittelmarken in eine Kasse legte und aus den Regalen Kaffee, Schmelzkäse und Brot holte.
»Na ja, das nächste Mal vielleicht.«
Dr. Kurze griff in einen Schrank, nahm eine kleine Tube heraus, schraubte sie auf und sagte: »Hier, das schmierst du dir ins Ohr, bevor du schlafen gehst.«
Die Salbe schimmerte gelb und roch komisch.
»Und das hier stopfst du hinterher.« Dr. Kurze legte eine Handvoll Wattebällchen vor Irén auf den Tisch. »Erstens bleibt die Salbe dadurch im Ohr und nicht auf dem Kopf kissen. Und zweitens wirkt das besser als nasses Papier.«
Er lächelte, als könnte er Gedanken lesen, und gab Irén einen Klaps auf die Schulter.
»Wenn es in zwei Tagen nicht besser ist, kommst du noch mal vorbei, einverstanden?«
»Einverstanden!«, sagte Irén.
»Danke, Herr Doktor«, sagte Iréns Mutter. Sie hatte wieder rote Bäckchen und war vor Freundlichkeit kaum wiederzuerkennen.
* * *
Aus dem Radio der Kantine erklang die Musik, die jetzt überall gehört wurde, vor allem von den jungen Leuten. Eine sanfte Stimme sang »Love me tender«. Alle, die sie hörten, schmolzen dahin. Auch Irén.
»Na, gefällt dir das, Kleine?«
Irén drehte sich um. Sie hasste es, Kleine genannt zu werden. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ihre Mutter sie so nannte. Wenn aber auch noch Fremde meinten, sie kleiner machen zu müssen, als sie tatsächlich war, um sich somit über sie zu stellen, sah sie rot.
Es war ihre Zimmernachbarin Fräulein Schmitz, die jetzt an einem Tisch nicht weit von der Essensausgabe entfernt saß und Irén zu sich winkte. Es war das erste Mal, dass sie die junge Frau tagsüber sah und nicht im Zimmer, im Bett liegend.
»Elvis!«, rief ihr Fräulein Schmitz entgegen. »So heißt der Sänger.«
Sie winkte Irén noch immer zu. Fräulein Schmitz war Anfang zwanzig, hatte lange, hochgesteckte Haare, lackierte Fingernägel und einen angemalten Mund.
»Setz dich doch!«, sagte sie, als Irén an ihrem Tisch angekommen war. Sie zog den Stuhl neben sich zur Seite und schob Irén gleichzeitig einen Teller zu. »Hier, iss!«
Ein goldgelber Pudding mit Dosenobst stand jetzt vor ihr und wartete darauf, verspeist zu werden. Was allerdings nicht so einfach war. Zwar hatte Irén wie immer ziemlichen Hunger, doch sie wollte sich von
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