Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
gegen die herrschenden Verhältnisse protestiert und sich gegen die Machthaber aufgelehnt hatten. Auch hier in Budapest schien sich eine Art Revolution anzubahnen.
Noch ganz in Gedanken, wurde ich durch einen lauten Knall zurück in die Wirklichkeit geholt. Schüsse fielen. Wie Peitschenhiebe zischten sie durch die Luft.
»Nicht schießen!«, rief ein Teil der Menge, »Keine Gewalt!«, während der andere Teil panisch auseinanderstob. Auch Iréns Mutter bekam es mit der Angst zu tun. Sie zerrte an den Armen ihrer Kinder und versuchte, möglichst schnell dem Pulk zu entkommen. Was aber nicht gelang, denn alle rannten durcheinander, rempelten einander an und stolperten. Viele stürzten zu Boden. Auch ich bekam einen Schlag, fiel aus dem umhängetäschchen und landete inmitten der Beine und Füße. Irén bemerkte es, schrie entsetzt »Halt!« und riss sich von der Hand ihrer Mutter los. Sie tauchte in das Wirrwarr aus Armen,Beinen und stürzenden Körpern ein, auf der Suche nach mir, ihrem kleinen Nussknacker. Auch die Mutter blieb nun stehen. Sie blickte sich wirr um, hielt Ausschau nach ihrer plötzlich verschwundenen Tochter.
Irén entdeckte mich schließlich auf dem Boden, wo ich von den unzähligen Füßen immer wieder hin und her gekickt wurde. Sie versuchte nach mir zu greifen, was ihr zuerst nicht gelang, bis sie sich mit dem ganzen Körper auf mich warf und unter sich begrub. Dann zog sie mich unter ihrem Leib hervor. Noch ehe sie mich wieder in das umhängetäschchen stecken konnte, packte die Mutter ihren Arm, zog sie von der Erde hoch und zerrte sie und Lehel hinter sich her durch das Getümmel.
»Tu das nie wieder!«, schimpfte die Mutter, blieb kurz stehen und musterte Irén mit strengem Blick. »Ist das klar?«
Irén nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen.
* * *
Es dauerte sehr lange, bis wir es zu Fuß nach Hause geschafft hatten.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Irén ihre Mutter, als sie erschöpft, aber wohlauf in ihrer Wohnung waren. Nur der Vater war noch in den Straßen von Budapest unterwegs.
Iréns Mutter steckte sich wieder eine Zigarette an. Wie schon am Nachmittag ging sie im Wohnzimmer auf und ab und hob immer wieder die Schultern. Sie sah schrecklich aus. Besorgt, verunsichert, aufgewühlt.
»Ich glaube, bald wird es uns viel besser gehen«, sagte sie schließlich zwischen zwei tiefen Zügen an der Zigarette, was aber weniger überzeugend als verstört klang.
»So schlecht geht es uns doch gar nicht«, sagte Irén.
Die Mutter blieb stehen, sah ihre Tochter noch besorgter an, schniefte und drückte die Zigarette in einem gläsernen Aschenbecher aus, der voll mit Kippen war.
»Das verstehst du noch nicht, mein Schatz.« Sie nahm ihre Wanderung durch das Wohnzimmer wieder auf. »Aber jetzt werden wir hoffentlich bald die Freiheit bekommen, wenn wir die Russen aus dem Land gejagt haben und wir ungarn so sein dürfen, wie wir sind.«
»Wie sind wir denn?«, kam jetzt von Irén.
Wieder blieb die Mutter stehen. Sie dachte nach, sah zu Irén und sagte, als ziehe sie die Worte aus der Nase ihrer Tochter, die auf dem Sofa saß und sie erwartungsvoll anblickte: »Selbstbestimmt und frei, verstehst du?«
Das war natürlich schwer zu verstehen. Zumindest für ein vielleicht dreizehnjähriges Mädchen. Irén schüttelte denn auch den Kopf.
»Macht nichts. Später wirst du es bestimmt verstehen«, sagte ihre Mutter, wobei sie wieder von einem Fenster zum anderen wanderte, während die Schüsse auf den Straßen immer lauter wurden.
So lange, bis das Telefon im Flur plötzlich klingelte. Die Mutter erschrak, blieb stehen und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Ich geh schon!« Irén sprang vom Sofa auf, rannte durch den Flur zum Apparat und nahm den Hörer ab. Noch ehe sie etwas sagen konnte, hielt sie den Hörer schon wieder vom Ohr weg und rief: »Papa ist am Telefon! Er sagt, wir sollen weggehen!«
»Was? Der spinnt doch«, kam es aus dem Wohnzimmer.
Irén hielt sich den Hörer wieder ans Ohr und sagte in die Muschel: »Mama sagt, du spinnst!«
Sie musste schmunzeln, doch nur ganz kurz. Dann nahm sie wieder den Hörer vom Ohr und rief noch lauter als zuvor: »Papa sagt, du sollst sofort an den Apparat kommen.«
Iréns Mutter kam aus dem Wohnzimmer und ging über den Flur. Sie stöhnte und blies die Wangen auf. Dann griff sie nach dem Hörer und sagte verärgert, was aber wenig überzeugend klang: »Anatal, was gibt’s denn jetzt schon wieder? Ich …«
Plötzlich
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