Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
seit Monaten. Worauf eigentlich, Mama? Worauf warten wir überhaupt?«
Noch ehe Irén weiterreden konnte, schlug ihre Mutter sie mit der flachen Hand ins Gesicht.
Irén rannte hinaus in den Hof.
* * *
Zwei Tage später trafen sich Irén und Max das letzte Mal am Tor des Lagers. Über dem Lager hingen schwarze Wolken, und in der Ferne blitzte es.
Lange standen sie nebeneinander und schwiegen.
»Ich muss weg von hier, Irén«, sagte Max schließlich mit belegter Stimme.
»Ist es so weit?«, fragte Irén traurig.
»Ja, meine Mutter hat Heimweh. Sie hat sich durchgesetzt. Papa übernimmt jetzt die Arztpraxis von Opa in Suhl.«
»Aber das ist doch auch schön für euch.« Irén versuchte Max aufzumuntern. Es misslang.
»Für Mama vielleicht. Für Papa womöglich auch. Für mich nicht.«
Max sah zum Himmel. Die Wolken kamen näher. Ein frischer Wind wehte am Tor vorbei ins Lager. Mich fröstelte es ein wenig.
»Ich will nicht von hier weg. Schon gar nicht nach drüben.«
»In den Osten?«
»Ja. Mama sagt, er fehlt ihr.«
»Der Osten?«
»Ja. Ich glaube, sie meint damit Opa und Oma und die Tanten.«
Die Wolken kamen näher. Der Wind wurde stärker.
»Und Papa tut, was Mama sagt. Das war schon immer so. Und ich muss mit. Ich will aber nicht, Irén.«
»Ganz schön verrückt. Ich will weg und schaff es nicht. Und du willst bleiben und darfst nicht.«
Irén spürte bereits die ersten Regentropfen auf der Haut.
»Hier, schenk ich dir. Das Liebste, was ich habe.«
Sie zog mich aus der Tasche und hielt mich Max hin.
»Danke.«
Max nahm mich und sah mich mit großen Augen an, als hätte er noch nie im Leben einen Nussknacker gesehen. Natürlich hatte er schon oft einen gesehen. Aber keinen wie mich. Ich war eben nicht nur ein Nussknacker, den er da in der Hand hielt, ich war eine Liebeserklärung von Irén. Die schönste Liebeserklärung,die ein Junge von einem Mädchen bekommen konnte, wie ich fand.
Irén sah aus, als wollte sie weinen. Auch Max schien die Tränen nur mit Mühe zurückhalten zu können.
Auf Iréns Wangen waren jetzt tatsächlich feuchte Perlen zu sehen.
»Der Regen«, sagte sie wie zur Entschuldigung.
»Der Regen«, wiederholte Max und wischte sich ebenfalls die Nässe aus dem Gesicht. Dabei versuchte er die Traurigkeit wegzulachen. Es gelang nicht.
Und dann küsste Irén im Weggehen Max ganz schnell auf die Wange, drehte sich rasch um und lief davon, ohne zurückzublicken.
»Wiedersehen!«, rief Max ihr hinterher und hielt mich dabei fest umklammert.
Wiedersehen , dachte ich und sah, wie Irén hinter dem Tor im Lager verschwand.
Über dem Lager blitzte und donnerte es. Dann setzte wolkenbruchartiger Regen ein.
1958 – 1961, Suhl, Eisfeld, Thüringen, Ostberlin, DDR
Wieder wurde ich, wie so oft in meinem Leben, in einen Koffer gepackt. Zuerst ein und nicht viel später wieder aus.
Wir waren in Eisfeld, einer kleinen Ortschaft nahe der Bezirksstadt Suhl in Thüringen, Ostdeutschland. Irgendwie sah es da auf den ersten Blick auch nicht viel anders aus als im Fränkischen, in Westdeutschland. Das neue Haus war nicht ganz so weiß und leuchtend und schien nicht halb so luxuriös zu sein. Die Zimmer waren kleiner, wirkten bescheidener und waren nicht nach der neuesten Mode eingerichtet. Die Arztpraxis sah auch um einiges schlichter aus als die von Max’ Vater. Dagegen war die Freude von Max’ Großeltern umso größer, ihren Enkel endlich wiederzusehen und von nun an für immer bei sich zu haben.
Max hingegen freute sich überhaupt nicht. Er ließ die Begrüßung gleichgültig und mit ausdruckslosem Gesicht über sich ergehen. Immer wenn der Großvater ihm vor Freude überden Kopf strubbelte, zuckte er zusammen und wurde verlegen. Wenn die Großmutter ihn beinahe erdrückte vor Zuneigung, rückte er ein Stückchen weiter von ihr weg.
Der Familie schien das zuerst gar nicht aufzufallen. Aber mir. Mir war sofort klar, dass Max vom ersten Tag an, den er in Eisfeld war, wieder wegwollte. Zurück ins Fränkische, zurück zu Irén. Er sagte es nicht, aber ich konnte es spüren. Manchmal zeigen Blicke mehr, als Worte jemals sagen können.
Max wurde immer seltsamer. Je länger er bei den Großeltern und in seinem neuen Zuhause war, desto verschlossener und mürrischer wurde er. Irgendwann sprach er kaum noch. Auf Fragen antwortete er nur mit Nicken, Kopfschütteln oder gar nicht. Schließlich fiel es auch der Familie auf.
»Warum ist der Junge so komisch?«, fragte die Großmutter
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