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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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Stimme. Wenn man ihm so zuhörte, hätte man manchmal glauben können, in einer Theateraufführung mit verschiedenen Rollen und Charakteren zu sein, bei der es hoch herging.
    Als wir in Berlin in Renes Wohnung eintrafen, stellte er mich auf den Fenstersims im Wohnzimmer, gleich neben das Radiogerät. Von dort hatte ich einen Blick auf die andere Seite der Brunnenstraße nach Westberlin. Der Ausblick war nicht schlecht, auf die Dauer aber doch ziemlich langweilig. Ich sah Häuser, Bäume, eine Rasenfläche und Leute, die mit eingezogenen Köpfen vorübereilten. Bei Regen trugen sie Schirme und Hüte. Es war jeden Tag dasselbe. Nie geschah etwas Außergewöhnliches.
    Nach ein paar Tagen war mir klar, dass mein Aufenthalt bei Rene sich ähnlich gestalten könnte wie damals in der Vitrine bei Herrn Schmitt-Radolf. Allein schon bei dem Gedanken daran überkam mich Verzweiflung. Ich suchte nacheinem Ausweg, fand aber keinen. Schlagartig wurde mir meine grausame Abhängigkeit von diesem kleinen Grenzbeamten bewusst. Außerdem war es nicht nur sterbenslangweilig, immerzu auf dem harten Fenstersims zu stehen, es bereitete mir auch körperliche Schmerzen. Der immer gleiche Blick auf ein Rasenstück und ein paar Bäume machte mich traurig und depressiv. Oft schloss ich die Augen und träumte von den aufregenderen Zeiten meines Lebens. Manchmal hielt ich tagelang die Augen geschlossen, den Blick nach innen gerichtet, und lebte in der Welt meiner Erinnerungen, die jetzt sehr viel erträglicher erschien als die trostlose Gegenwart. Jedes Mal hoffte ich, dass sich etwas verändert hätte, wenn ich die Augen wieder aufschlug, aber jedes Mal wurde ich enttäuscht. Alles war so trostlos wie zuvor.
    Wenn Rene zu Hause war, ging es meist drunter und drüber. Entweder robbte er mit einer Kittelschürze um den Leib und mit einem Putzlappen in der Hand auf den Knien durch die Wohnung, oder er saß teilnahmslos auf dem Sofa, sah fern und redete ganz aufgeregt mit sich selbst. Die meiste Zeit aber war Rene nicht zu Hause, weil er die Grenze der DDR sichern musste, und die Wohnung lag wie im Tiefschlaf in bleierner Schwere vor mir. Nur am Wochenende kehrte Rene in die Wohnung zurück, wo er nach seinem Eintreffen sofort wieder zu putzen anfing. Ich glaube, er hatte einen Putzfimmel. Stundenlang wienerte er die Böden, bürstete die Sessel und das Sofa ab und wischte Tisch, Stühle und Schränke mit Möbelpolitur, dass es in der Wohnung nach einem üblen Mix aus Politur und Reinigungsmitteln stank, von dem mir ziemlich übel wurde.
    Bloß gut, dass unter der Woche, wenn Rene Dienst hatte,fast jeden Tag zur gleichen Zeit eine ältere Frau die Wohnung betrat und als Erstes die Fenster weit aufriss, um frische Luft hereinzulassen. Anschließend goss sie die Blumen und stöberte in den Schränken und Schubladen im Wohnzimmer herum. Vielleicht war die Frau Renes Mutter oder eine Nachbarin. Vielleicht auch seine Schwester oder eine Freundin, obgleich Rene nicht aussah, als hätte er eine Freundin. Jedenfalls sah ich die Frau nie mit ihm zusammen.
    So ging das Monate, Jahre. Ich weiß nicht, wie lange. Die Zeit verging rasend schnell und blieb doch stehen. Zumindest kam es mir so vor. An den Blättern der Bäume draußen vor den Fenstern erkannte ich den Wechsel der Jahreszeiten, auch wenn ich manchmal das Gefühl hatte, dass immer nur Herbst oder Winter war, selbst dann, wenn die Sonne heiß vom Himmel schien und alles sommerlich leuchtete.
    * * *
    An einem Wochenende im Sommer, als die Temperaturen unerträglich waren und ich am ganzen Leib schwitzte wie in der Sauna, robbte Rene wieder einmal, diesmal nur in Unterhose und Unterhemd, auf den Knien durch die Wohnung und putzte wie besessen. Auch er schwitzte, dass sein ganzer Körper glänzte. Zuerst waren das Schlafzimmer und die Küche dran. Dann das Wohnzimmer. Zuletzt kamen die Fenster an die Reihe. Als Rene nach Stunden endlich fertig war, prangten auf dem Rücken seines Unterhemds große nasse Flecken. Er war so erschöpft, dass er sofort einschlief, nachdem er sich auf dem Sofa niedergelassen hatte. Während er leise vor sich hin schnarchte, bemerkte ich plötzlich eine grundlegende Veränderung. Ich traute meinen Augen kaum, aber keine zweiMeter von mir entfernt stand auf dem anderen Fenstersims ein Miniaturhubschrauber, in dem eine kleine Figur saß. Wir beobachteten uns lange und wagten es nicht, auch nur einen Pieps von uns zu geben, während Rene auf dem Sofa lag. Erst als er

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