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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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hatte Dr. Kurze seine Praxis. Darüber wohnte die Familie. Max’ Mutter empfing die beiden in einem weißen Kittel und sagte: »Ihr kommt zurecht, oder?«
    »Ist deine Mutter auch Ärztin?«, fragte Irén.
    »Nee, die hilft Papa in der Praxis.«
    Max hatte nicht nur ein eigenes Zimmer, das dreimal so groß war wie das im Lager, er hatte sogar einen eigenen Fernsehapparat, in dem nachmittags meist eine Tiersendung lief. Ein Mann erschien auf dem Bildschirm und erklärte den Zuschauern, was sie zu sehen bekamen.
    »Das ist Grzimek«, sagte Max. Irén musste kichern wegen des komischen Namens.
    Irén und ich staunten natürlich über diese Pracht und diesen Reichtum. Irén kam er angesichts ihrer eigenen Situation befremdlich vor.
    Damals in Budapest war es ihnen gar nicht so schlecht gegangen. Sie hatten eine große Wohnung gehabt, genügend und gut zu essen, und vor allem eine intakte Familie. Jetzt wohnten sie zusammengepfercht wie Tiere in einem viel zu kleinen Zimmer, mussten alberne Klamotten tragen, das Essen schmeckte meistens nicht, und Geld hatten sie auch viel zu wenig. Am meisten aber schmerzte, dass Iréns Vater nicht bei ihnen sein konnte. Mehr noch, dass sein Schicksal ungewiss war. Niemand wusste, wo er steckte. Ob er im Gefängnis war? Oder vielleicht sogar schon tot?
    Natürlich versuchte Iréns Mutter mindestens einmal amTag nach Budapest zu telefonieren, um bei Verwandten und Bekannten nach ihm zu forschen. Doch es schien aussichtslos. Entweder wussten die anderen nichts, oder sie kam am Telefon gar nicht erst durch.
    »Das ist ja irre hier«, sagte Irén, als sie ihr Erstaunen nicht mehr zügeln konnte.
    »Geht so.«
    Max schien über das, was für mich und Irén außergewöhnlich war, gar nicht erfreut zu sein.
    * * *
    Als Max Irén am Abend ins Lager zurückbrachte, sahen wir Fräulein Schmitz mit toupierten Haaren und einer sommerlichen Bluse an einer Straße stehen, an der hin und wieder ein Auto hielt. Manchmal kamen auch Männer auf Fahrrädern des Weges, die kurz stoppten und ein paar Worte mit dem Fräulein wechselten, um dann weiterzufahren. Bald darauf stieg Fräulein Schmitz in einen großen VW und fuhr davon.
    »Was macht die denn da?« Irén wunderte sich genauso wie ich.
    »Das ist ’ne Nutte!«, sagte Max.
    »Das ist Fräulein Schmitz!«, sagte Irén protestierend.
    Max zuckte nur mit den Schultern. Im Weitergehen raunte er: »Die machen Liebe für Geld.«
    Irén wurde rot. Auch ich fing bei Max’ Worten zu schwitzen an.
    Sofort wechselte Irén das Thema und erzählte von Elvis, dem Sänger aus dem fernen Amerika.
    »The King!«, sagte Max. Auch er schien froh zu sein, über etwas anderes reden zu können.
    * * *
    Keine fünf Tage später – Irén war wieder bei Max zu Besuch – rief Max’ Mutter aus dem Wohnzimmer: »Ich halte es hier nicht mehr aus!«
    Es klang verzweifelt. Max und Irén saßen vor dem Fernsehapparat und schauten Grzimek.
    Ich wunderte mich über den heftigen Ausbruch von Max’ Mutter und dachte: Komisch, wenn seine Mutter es schon nicht mehr in ihrem komfortablen Haushalt aushält, was sollen dann erst Irén, ihre Mutter und die Leute im Lager sagen? Irén schien Ähnliches zu denken. Zumindest sah sie so aus, während sie unverwandt auf den Fernseher starrte, als wollte sie sich nichts anmerken lassen.
    »Martin, ich kann nicht mehr«, schrie Max’ Mutter und brach in Tränen aus.
    »Jetzt beruhige dich«, hörte man Dr. Kurze sagen.
    »Ich will mich nicht beruhigen!« Jetzt klang es noch hysterischer als zuvor. »Ich kann mich nicht beruhigen! Martin, lass uns von hier weggehen!«
    »Wie stellst du dir das vor, Karin?« Auch Herr Kurze wurde jetzt lauter. »Wir haben uns hier doch alles aufgebaut. Das Haus. Die Praxis. Max geht hier zur Schule.«
    »Das kann er auch woanders«, widersprach Karin und schluchzte.
    Es entstand eine kurze Pause, in der Max’ Eltern schwiegen. Herr Grzimek sprach im Fernseher gerade über Tiger und darüber, dass sie die höchstentwickelten Fleischfresser im Tierreich seien.
    »Martin, das ist nicht mein Zuhause. Ich will hier weg. Ichwill dahin zurück, wo ich herkomme. Wo ich mich zu Hause fühle.«
    Wo das war, war mir schleierhaft. Auch Irén hatte keinen blassen Schimmer. Max dagegen schien bestens Bescheid zu wissen.
    »So geht das schon seit Monaten«, sagte er schließlich, ohne den Blick vom Fernsehapparat zu nehmen, wo jetzt ein Bengalischer Tiger auf der Jagd nach Antilopen zu sehen war. »Mama will zurück zu

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