Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert
nach ein paar Wochen.
»Das wird schon wieder.« Die Mutter lachte gekünstelt. »Er fremdelt noch ein bisschen.«
Max’ Vater sah Karin an, die Mutter, als wäre einzig und allein sie schuld daran. Irgendwie hatte er sogar recht. Karin hatte zu ihren Eltern nach Eisfeld gewollt, und ihr Mann und Max mussten mit. Vor allem mussten sie alles hinter sich lassen, was ihnen lieb und teuer war. Und wenn man Max so betrachtete, war das ziemlich viel. In seinen Augen womöglich fast alles.
Während der ganzen Sommerferien verließ er nur selten sein Zimmer. Er lag auf dem Bett. Das Fenster war meistens geschlossen, die Vorhänge halb oder ganz zugezogen. Er las, oder er saß an seinem Schreibtisch und malte und schrieb. Was, konnte ich nicht sehen. Manchmal schrieb er Briefe, die er in Kuverts steckte, dann aber doch nicht abschickte.
Für wen die Briefe bestimmt waren, wusste ich nicht, konnte es mir aber denken.
* * *
An einem Nachmittag, als Max seinen Vater bei einem Hausbesuch begleitete, kam die Mutter in sein Zimmer. Sie setzte sich an den Schreibtisch und ließ den Blick langsam im Zimmer umherwandern. Sie schien nachzudenken. Über ihren Augenbrauen hatte sich eine tiefe Furche gebildet. Ihre Lider flatterten wie Schmetterlinge.
Nach einiger Zeit stand sie auf und öffnete zunächst eine Schublade des Schreibtisches. Vorsichtig kramte sie darin. Dann öffnete sie die nächste Schublade. Wieder wühlte sie darin. Sie schien irgendetwas zu suchen.
Als sie sämtliche Schubladen durchstöbert hatte, machte sie den Schrank auf und sah hinter den akkurat aufeinandergelegten Pullovern nach.
Sie durchsucht Max’ Zimmer , dachte ich. Was für eine Frechheit. Wonach Max’ Mutter suchte, war mir nicht klar. Ihr selbst offenbar auch nicht. Doch als sie unter dem Bett die Schachtel mit den Briefen hervorzog, schien sie das Gesuchte gefunden zu haben. Sie setzte sich aufs Bett und las einen Brief nach dem anderen.
Das kann doch nicht wahr sein , dachte ich, das darf sie doch gar nicht! Das hat Max ihr bestimmt nicht erlaubt. Im Gegenteil, er würde es ihr verbieten. Das sind seine Worte auf dem Papier, seine Gedanken in den Briefen.
Die gehen keinen etwas an. Nur den, an den sie adressiert waren. Und wer das war, lag auf der Hand. Irén! Es waren Briefe an Irén, die Max’ Mutter manchmal still, manchmalleise murmelnd las, als könnte oder wollte sie das Geschriebene nicht wahrhaben.
»Ich möchte hier nicht sein. Alles ist so anders, so ungewohnt. Das Schlimmste aber ist, dass ich mich gar nicht daran gewöhnen möchte«, las die Mutter leise, wobei ihre Lippen sich kaum bewegten. Immer wieder schüttelte sie den Kopf. Als unten im Hausflur die Tür zu hören war, packte sie sämtliche Briefe flugs in die Schachtel zurück und schob diese unters Bett.
Da blieben sie dann bis zum Abend liegen. Erst als im Haus die Lichter ausgegangen waren und Max schon lange im Schlafanzug am Schreibtisch saß, holte er die Schachtel hervor, um einen weiteren Brief hineinzulegen, den er geschrieben hatte und nicht abschicken wollte.
Ich wollte ihm zurufen: Max, deine Mutter hat sie gelesen! Sie hat alle deine Briefe gelesen!
Er hätte mich aber nicht verstanden.
* * *
Als die Ferien endlich vorbei waren, sollte Max in Suhl in die Schule gehen, aber dazu kam es nicht mehr.
Ich hatte ihm schon seit Längerem angemerkt, dass er in seiner schweigsamen Phase etwas ausheckte. Er hatte irgendetwas vor, und zwar nicht erst in ferner Zukunft. Was er sich da zusammenreimte, leuchtete mir zuerst allerdings nicht ein.
Erst als er sich eines Nachmittags bei seinem Großvater eine Landkarte von Ostdeutschland auslieh, ahnte ich, was er vorhatte. Als der Großvater ihn danach fragte, sagte er, ohne auch nur den Hauch eines Verdachts zu erregen: »Das Land besser kennenlernen.«
Das stimmte natürlich nicht. Und doch war es nicht ganz gelogen. Er wollte das Land kennenlernen. Allerdings nicht das ganze Land, sondern nur einen ganz kleinen Teil davon, und zwar so gut, dass er diesen ganz kleinen Teil möglichst schnell überwinden konnte: die Grenze.
* * *
Als ein paar Tage später die Lichter im Haus erloschen und alles ganz ruhig schien, packte Max mich in seine umhängetasche. Er schlich auf Strümpfen, die Schuhe in der Hand, durch den dunklen Flur und die Treppe hinunter bis zur Haustür, schlüpfte hindurch und ließ sie fast lautlos ins Schloss gleiten. Dann zog er seine Schuhe an, setzte sich auf sein Fahrrad und radelte
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