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Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert

Titel: Der Nussknacker - Reise durch ein Jahrhundert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo
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ausgeschlafen hatte und mit seiner Reisetasche die Wohnung verließ, um wieder zur Landessicherung an die Grenze zu fahren, fragte das Männchen: »Wo kommst du denn her?«
    Das Gleiche hätte auch ich fragen können. Doch noch ehe ich etwas sagen oder fragen konnte, redete das Männchen weiter. »Ich hab monatelang im Schlafzimmer gestanden. Jetzt hat er mich endlich woanders hingestellt. Und du?«
    »Ich? Ich stehe schon eine halbe Ewigkeit hier im Wohnzimmer.«
    Meine Stimme klang belegt, als hätte ich schon lange nicht mehr geredet. Was ja auch stimmte. Dem Männchen kam es ähnlich vor.
    »Sag mal, kannst du ein bisschen deutlicher sprechen? Man versteht dich ja kaum.«
    Wie auch , dachte ich. Nach monatelangem Schweigen und noch dazu mit bayerischem Holzleim im Mund ist man nun mal schwer zu verstehen. Ich bemühte mich trotzdem, deutlicher zu sprechen. Es ging tatsächlich. Offenbar ist alles eine Frage der Konzentration. Das Männchen lachte und sagte: »Sei froh, im Schlafzimmer ist es noch grauenvoller. Vor allem der Geruch. Riechst du das?«
    Klar roch ich es.
    »Ständig stinkt es hier nach Putzmittel, dass einem übel werden könnte.«
    »Stimmt«, sagte ich, dachte kurz nach und fragte dann: »Warum putzt Rene ununterbrochen?«
    Das Männchen wedelte mit der Hand vor dem Gesicht hin und her und lächelte dabei.
    »Verstehe«, sagte ich und lächelte ebenfalls.
    »Außerdem will er, dass ihn nichts mehr an Rebekka erinnert.«
    »Rebekka?«
    »Nicht mal der Geruch.«
    »Wer ist denn Rebekka?«
    »Sie war seine Frau. Die ist nach drüben abgehauen, vor zwei Jahren. Seitdem ist Rene nicht wiederzuerkennen. Er spricht immerzu mit sich selbst und putzt, was das Zeug hält.«
    »Wo ist Rebekka denn hin?«
    Das Männchen sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.
    »Nach drüben, zum Feind, in den Westen, in die BRD. Das machen jetzt ’ne Menge Leute. Guckst du denn nicht fern?«
    »Nö.«
    »Na, dann ist mir einiges klar.« Das Männchen lachte. »Dann kannst du mich ja auch nicht kennen.«
    Ich verstand nun gar nichts mehr. Das blieb dem Männchen nicht verborgen. Es räusperte sich und sagte mit einem salbungsvollen Klang in der Stimme, als wäre es mächtig stolz: »Ich bin jeden Tag im Fernsehen, seit drei Jahren. Ich bin das Sandmännchen.«
    Nie davon gehört , dachte ich und musste über den komischen Namen ein wenig schmunzeln.
    »Na ja, das war, bevor ich hier abgestellt wurde und  …« Das Sandmännchen hielt inne. »Was grinst du denn so blöd?«
    Ich wurde rot, stammelte unverständliches und sagte dann, um ein wenig von der Peinlichkeit abzulenken: »Warumfliegst du denn nicht weg? Du hast doch einen Hubschrauber.«
    Der Sandmann lachte, was aber eher verzweifelt als belustigt klang.
    »Vergiss es. Motorschaden. Da geht gar nichts mehr.«
    Plötzlich wurde der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür gedreht.
    »Pssst«, flüsterte der Sandmann. »Die Alte kommt. Die Nachbarin.«
    Und tatsächlich, die Tür ging auf, und die alte Frau stand wieder in der Wohnung. Sie goss die Blumen, schnüffelte in den Schubladen und Schränken herum und öffnete das Wohnzimmerfenster, um zu lüften. Dabei blieb ihr Blick zum ersten Mal an mir hängen.
    »Wo kommt der denn her?«, fragte sie, als ob auf der Couch jemand säße, der nur darauf wartete, ihr die Frage zu beantworten.
    Ich hätte es ihr natürlich sagen können. Da ich aber davon ausging, dass sie es nicht verstehen würde, hielt ich lieber den Mund.
    Sie nahm mich in die Hand, drehte mich mehrmals auf den Kopf und inspizierte mich, als wäre ich kein Nussknacker aus Holz, sondern ein Souvenir, das Juri Gagarin aus dem Weltall mitgebracht hatte. Der russische Kosmonaut war vor Kurzem als erster Mensch von einer atemberaubenden Expedition aus dem Weltraum zurückgekehrt. Schließlich stellte die Frau mich kopfschüttelnd zurück auf den Fenstersims und machte sich wieder an den Schubladen und Schränken zu schaffen.
    Nun stand ich plötzlich anders als zuvor am Fenster undsah neben dem Rasenstück und den Bäumen etwas, das zuvor nicht da gewesen war oder das ich nicht gesehen hatte.
    »Was ist das denn?«, fragte ich, als die Alte das Wohnzimmer wieder verlassen hatte.
    »Bauarbeiter!«, sagte der Sandmann wie selbstverständlich. »Das war ja abzusehen.«
    Für ihn vielleicht. Für mich nicht.
    »Für mich vielleicht, für dich nicht, was?«, sagte der Sandmann, was ziemlich überheblich klang.
    Und tatsächlich, vor dem

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